„Ist Musikerziehung überflüssig oder notwendig?“ Diese nur scheinbar provokante Frage war der Kern des Vortrags „Gedanken über Musikerziehung“, mit dem der Münchner Pädagoge Prof. Dr. Eckart Liebau das erste Plenum auf dem diesjährigen VdM-Kongress eröffnete – und erwartungsgemäß fiel die Antwort für Musikpädagogen günstig aus. Trotzdem tut es eben manchmal einfach gut, sich der Sinnhaftigkeit seines Berufs zu vergewissern. Jene Musikschullehrerinnen und -lehrer, die am letzten April-Wochenende nach Bamberg gekommen waren, sollten in dieser Hinsicht jedenfalls auf ihre Kosten kommen. Und ich als Journalistin profitierte auch.
Ästhetische Bildung, so Liebau, ist unerlässlich, weil sie die Entwicklung und die Weltsicht junger Menschen positiv beeinflusst. Besonders das Musizieren spricht Geist, Seele und Körper gleichermaßen an; beim Musizieren im Ensemble werden nebenbei noch das Gemeinschaftsgefühl gestärkt, es überwindet Sprachgrenzen, hat eine potentiell therapeutische Wirkung und so weiter. Fazit des Plenums: Die Gesellschaft muss die Bedeutung der Künste anerkennen, und auch in der Schule müssen die künstlerischen Fächer einen Schwerpunkt haben. Die gute Nachricht ist, dass sich Moderator Dr. Winfried Richter zufolge aktuell offenbar tatsächlich so etwas wie eine „Kulturbewegung“ abzeichnet – Wasser auch auf die Mühlen einer Kulturjournalistin!
„Immer noch ein paar Prozent mehr Perfektion“?!
Aus dem reichen Angebot an Arbeitsgemeinschaften habe ich mir für den Vormittag das Thema „Wie führe ich ein begabtes Kind zur Spitzenleistung?“ herausgepickt. Und das, obwohl ich eigentlich einen inneren Widerstand dagegen empfinde – oder gerade deswegen?! Romuald Noll von der Stuttgarter Musikschule steht am Rednerpult, und es gelingt ihm erstaunlich schnell, meine Vorbehalte – die wohl daher rühren, dass ich die Fragestellung irgendwie automatisch mit Stress und Drill assoziiere – zu knacken. Was er gemeinsam mit seinen Schülern anstrebt, ist deren ganz persönliche, die ihnen mögliche Spitzenleistung. Dabei wird immer nur so weit gegangen, wie das Kind will. Es soll nicht über- und nicht unterfordert sein. „Das Kind sollte auf keinen Fall anfangen, sozial zu leiden“, sagt er. „Dabei ist es unter Umständen auch nicht sinnvoll, permanent noch ein paar Prozent mehr Perfektion herauskitzeln zu wollen.“ Das klingt äußerst menschlich und vernünftig – und mir wird klar: Nur weil ich als Kind nicht bei „Jugend musiziert“ mitmachen wollte, muss das nicht auch für andere der verkehrte Weg sein. Für Schüler, die das Sich-Messen nicht unter negativen Druck setzt, sondern eher pusht, gibt es wahrscheinlich keinen besseren Ansporn zu konzentriertem Arbeiten und zu Leistungsverbesserung.
Für einen erfolgreichen Unterricht begabter Kinder braucht es laut Noll zweierlei: „Intuition“ – damit gemeint ist eine genaue Betrachtung des Schülers und seines Umfeldes, des zu erarbeitenden Kunstwerks und auch eine kontinuierliche Selbstreflexion des Lehrers – und „pädagogischen Gestaltungswillen“. Letzteren sollte zum einen das Kind mitbringen, wenn es um die Interpretation von Kunstwerken geht. Andererseits sollte er aber auch beim Lehrer vorhanden sein, damit dieser das Kind voranbringen kann.
Interessant, wie Noll ein bisschen aus seinem persönlichen pädagogischen Nähkästchen plaudert, stolz von verflossenen und aktuellen Schülern erzählt und sehr konkret wird, wenn es um die Verbesserung der technischen Fähigkeiten von Kindern geht. So empfiehlt er etwa, das Üben von Tonleitern mit Aufgabenstellungen zu verknüpfen – sie z. B. sehr laut und dann wieder sehr leise spielen zu lassen –, um die Technik nicht vom Gestaltungswillen abzukoppeln. Überhaupt rät er zu sehr präzisen Hinweisen an den Schüler in Fragen der Motorik. Und zu einer wöchentlichen „Probebühne“, bei der sich alle Schüler einer Klasse gegenseitig vorspielen können, um das Auftreten zu üben und sich auszutauschen.
Als er erzählt, dass ihm pro Schüler 90 Minuten Unterrichtszeit pro Woche zur Verfügung stehen, geht so etwas wie ein neidvolles Raunen durch die Reihen der Workshop-Teilnehmer. Viele der anwesenden Instrumentallehrer müssen sich mit einer halben Stunde pro Woche begnügen – und die meisten von ihnen unterrichten eher „normal begabte“ Schüler (die teilweise wohl auch schwer zu motivieren sind, wie aus der anschließenden Fragerunde hervorgeht). Solche Probleme kennt Noll natürlich nicht unbedingt. „Wenn Sie von Ihrem Schüler einen dauernden Widerstand spüren, dann … sollten Sie sich am besten einen anderen Schüler suchen!“, findet er. Und wieder wird deutlich: Ein Kind muss zur Spitzenleistung geführt werden wollen, sonst hat das Ganze überhaupt keinen Sinn. Noll jedenfalls scheint den Bogen wirklich rauszuhaben, gingen doch bereits über 90 Bundespreise bei „Jugend musiziert“ aus seiner Klasse hervor.
„Teacher matters“
Das zweite Plenum mischt den Kongress fast ein bisschen auf: Prof. Dr. Rainer Dollase ist dafür aus Bielefeld angereist, durchaus provokative Thesen und die eine oder andere flapsige Bemerkung zum Thema Pädagogik im Gepäck. Da wären zum einen PISA und sonstige Studien zur internationalen empirischen Unterrichtsforschung. Diese erlauben laut Dollase keinerlei kausale Rückschlüsse auf die Verursachung der Unterschiede zwischen den Schülern verschiedener Länder bzw. deren Leistungen. „Wenn behauptet wird: ‚PISA hat gezeigt, dass wir die gleichen Methoden brauchen wie das Land x‘, dann ist das falsch!“, ruft er. „Man erkennt aus solchen Studien überhaupt nicht, warum genau man schlechter abgeschnitten hat als die anderen!“
Da hält er es schon eher mit John Hattie: Der neuseeländische Pädagoge hat 50.000 Einzeluntersuchungen zu Unterrichtsmethoden und Lernbedingungen weltweit zu einer großen Zusammenfassung der empirischen Unterrichtsforschung gebündelt. Sein 2008 veröffentlichtes Buch, „Visible Learning“, enthält somit eine Art Bestenliste der effektivsten pädagogischen Programme.
Natürlich hat Dollase auch an ihm, Hattie, so einiges auszusetzen, aber in seiner Kernaussage gibt er ihm völlig recht: „teacher matters“, oder, um mit Dollase zu sprechen: „Aus der Experten-Nummer kommen wir nicht raus.“ Glaubwürdigkeit, Kompetenz und Zuwendung zeichnen einen guten Lehrer aus. Kleinere Klassen, Gruppenarbeit etc. – alles Quatsch. Das Lernen in Kollektiven ist seiner Meinung nach unnatürlich, und auch reine Autodidaktik kann nicht funktionieren. „Der Schüler braucht den Experten als Bezugsperson in Unsicherheitssituationen“, so Dollase. „‚Hilf mir, es selbst zu tun‘, hat Maria Montessori formuliert, und das war das Kerngeschäft des Lehrers vor 1.000 Jahren und wird es auch in 1.000 Jahren noch sein. Die Grundzüge der Pädagogik sind ewig wirksam.“
Übrigens gibt es auch hier wieder den Motivationsschub als Gimmick für die Musikschullehrer mit dazu: „Was für ein Lebensglück Sie schaffen, indem Sie jungen Menschen das Musizieren beibringen!“ Andererseits haben seine Ausführungen aber auch ein gewisses Potential zur Verwirrung. „Er war schon sehr glaubwürdig“, meint später eine jüngere Kongressteilnehmerin. „Aber was er da gesagt hat, war natürlich genau das Gegenteil von dem, was einem sonst immer erzählt wird!“ Ich selbst bin keine Pädagogin, aber ich erinnere mich mit Grausen an so genannte „Projekttage“ während meiner Schulzeit, bei denen ich nicht halb so viel gelernt habe wie in einer einzigen vernünftigen Unterrichtsstunde bei einem guten Lehrer. Insofern erscheinen mir Dollases Ansichten durchaus plausibel.
Fast ein Popstar
Aus der Liste der Nachmittags-AGs suche ich mir ein brandaktuelles Thema heraus – schon der Titel ist großartig: „Mobile-Music & Social-Sounds. Smartphones, Tips, Apps & Tabs im Musikunterricht“. Als ich den Raum betrete, wird erwartungsgemäß bereits allenthalben getippt – fast jeder der Anwesenden hat ein so genanntes „Mobile Device“, also ein Smartphone oder einen Tablet-PC; und eine ganze Reihe von ihnen nutzt solche Geräte, wie der Fragetest durch Workshop-Leiter Philipp Godart aus Köln ergibt, auch schon für den Musikunterricht. Denn man kann damit nicht nur seinen Unterricht organisieren, Videos von seinen Schülern machen, um z. B. Haltungsfehler zu korrigieren, oder musiktheoretische Inhalte vermitteln, sondern man kann natürlich vor allem eines: Musik erschaffen.
Godart tut das gemeinsam mit ganzen Schulklassen: In mehreren Teams dürfen die Kinder einen Liedtext schreiben, auf dem iPad mit Apps wie „Garage Band” einen Song „komponieren“, eine Choreographie für das zugehörige Musikvideo einstudieren, das Ganze einsingen etc. Der Vorteil: Die entsprechenden Apps sind so leicht zu bedienen und können so viel „selbst“, dass am Ende eigentlich immer ein musikalisches Gebilde zustande kommt, das irgendwie gut klingt – egal, ob der Anwender Vorkenntnisse hat oder nicht. Und er, meint Godart unbekümmert, kann mal kurz Kaffee trinken gehen, während die Kids „einen Beat bauen“.
Der Musiklehrer geht Kaffee trinken?! Komponieren ohne Vorkenntnisse?! Nicht weiter verwunderlich, dass sich angesichts von so viel Pragmatismus im Auditorium reflexartig ein paar Nackenhaare aufstellen. Aber die Kinder sind natürlich restlos begeistert davon, so einfach einen eigenen Song kreieren zu können. Ist ja auch klar: Was kann denn bitte cooler sein, als sein eigenes Musikvideo auf „YouTube“ oder den selbst gesungenen Klingelton auf dem Handy zu haben?! Und wenn dann am Schuljahresende womöglich auch noch ein Bandauftritt ansteht, kann man sich schon fast ein bisschen fühlen wie bei „Popstars“. All das führt dazu, dass viele Kinder, die vorher womöglich nie allzu viel mit Musik am Hut hatten, im Anschluss an ein solches Projekt in irgendeiner Form dabei bleiben wollen. „Der Wille, musiktheoretische Zusammenhänge zu checken, kommt irgendwann“, versichert Godart. „Und viele Kids kommen erst durch ein Mobile Device auf die Idee, ein echtes Instrument zu lernen. Das kann also auch ein Türöffner sein für die Musikschule“. Na gut. Die Nackenhaare legen sich wieder.
Übrigens: Es ist nicht nur die Hoffnung auf Input und neue Motivation, die mich und die anderen 1.499 Kongressbesucher hierhergeführt hat. „Ich will Leute kennenlernen, die im gleichen Bereich arbeiten wie ich“, erzählt mir eine Teilnehmerin, die sich noch auf das Staatsexamen vorbereitet, nebenbei aber schon als Musiklehrerin arbeitet. „Und mich natürlich über neues Unterrichtsmaterial informieren.“ Oh ja, auch die begleitende Mini-Musikmesse mit ihren rund 70 Ständen im Hegel-Saal bzw. im Foyer der Kongresshalle ist die Reise wert – was könnte man hier nicht alles Schönes kaufen! Verlage präsentieren ihre aktuellen Programme, man kann sich über Entwicklungen im Instrumentenbau, Musikschulverwaltungsprogramme oder die Angebote von fachbezogenen Verbänden und Institutionen wie der „ver.di FG Musik“ informieren.
„Es ist echt wahnsinnig toll hier“, murmelt ein anderer Besucher, der so wie ich mit shoppinglüsternem Blick durch die Stände bummelt, halblaut vor sich hin. Süß: Sein Töchterchen nebst Puppenbuggy trabt hinter ihm her – was auch absolut sinnvoll ist! Denn schließlich gibt es hier jede Menge Material, vor allem Noten, für Kinder. Und selbst ausgesuchte Noten üben sich doch mit Sicherheit leichter! Als mir die „Musikbausteine“-Sets von Michaela Paller präsentiert werden, eine Neuheit aus dem „Musikverlag Holzschuh“, wünschte auch ich, ich hätte meinen Fünfjährigen mitgebracht. Denn die Idee ist super: Die Sets bestehen aus einer Art Lego-Grundplatte und Bausteinen, die mit verschiedenen Noten- und Pausenwerten bedruckt sind und sich dann je nach Spielidee bzw. musiktheoretischer Zielsetzung immer wieder neu anordnen lassen. Es gibt die Sets in verschiedenen Größen und Schwierigkeitsstufen, und sie können sowohl im Unterricht als auch zu Hause verwendet werden. Aber ob mein Großer wirklich Spaß daran hätte und sich nicht nach zwei Minuten langweilen würde, könnte ich natürlich erst beurteilen, nachdem ich es ihn selber habe testen lassen.
Dann wären da natürlich noch Bücher, verschiedenste Instrumente zum Ausprobieren (vom Hörgenuss, den ein sich in Jazzimprovisationen verlierender Flügel-Tester mir bereitet, muss ich mich regelrecht losreißen), Ketten mit Mini-Instrumenten-Anhängerchen, Wanduhren, auf deren Ziffernblatt Quintenzirkel prangen, Griffbrettöl, Postkarten … Ja, es gibt hier wirklich viel zu entdecken.
Mich persönlich begeistert vor allem ein Möbelstück, das wie ein Schaukelstuhl mit eingebauter Harfe aussieht. Die Lehne ist ein hölzernes Halbrund, dessen Außenseite links und rechts mit jeweils 18 Saiten bespannt ist. Als ich drinsitze und die Standbetreuerin der Manufaktur „Allton“ über die Saiten streicht, kann ich kaum anders, als mich innerhalb von wenigen Momenten zu entspannen. Das Rückenteil dieses „Klangschaukelsitzes“, so erfahre ich, ist auch solo erhältlich, heißt dann „Klangwiege“ und kommt unter anderem zu Entspannungs- und Erholungszwecken in Kindertagesstätten zum Einsatz. Ich versuche zu überschlagen, wie viele Stücke Kuchen man beim Kita-Sommerfest verkaufen müsste, damit die Einrichtung sich ein solches Teil leisten könnte und … gehe dann mal weiter zum nächsten Stand …
Mein Fazit
Die Musikschulen versuchen wirklich, mit der Zeit zu gehen, ihr Personal auf dem Laufenden zu halten. Und an der Relevanz ihrer Tätigkeit sollten nach so einer Veranstaltung, wie gesagt, für Musikpädagogen auch keine Zweifel mehr bestehen. Der nächste VdM-Kongress findet 2015 in Münster statt – und ist nicht nur für Musikschullehrer wärmstens zu empfehlen!