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Neues vom LexM: Dr. Sophie Fetthauer im Gespräch mit violinorum.de

Theodor W. Adorno, der große Philosoph, Musikwissenschaftler und Komponist – Günter Raphael,  der in den letzten Jahren wieder mehr ins öffentliche Bewusstsein gerückte Komponist – und Godfried Zeelander, der wahrlich nicht unbedeutende, aber weitgehend vergessene Cellist und Pianist aus Amsterdam: So unterschiedliche Musiker-Persönlichkeiten versammelt das Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit „LexM“.

Gemeinsam ist ihnen, dass sie unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft verfolgt wurden; ob es sich um mehr oder weniger prominente Künstler handelt, spielt für den thematischen Zuschnitt dieses biographischen Nachschlagewerkes keine Rolle, ja nicht einmal, welcher Art die Verfolgung war, unter der sie zu leiden hatten. Adorno etwa wurde ins Exil gedrängt, und konnte nach dem Krieg als Exponent der Frankfurter Schule eine ganze Epoche mitprägen. Raphael überlebte den Nationalsozialismus in Deutschland, belegt von einem Berufsverbot, das ihn ständig an den Rand seiner künstlerischen, wirtschaftlichen und physischen Existenz drängte. Zeelander gehört zu den Toten von Auschwitz, und die Biographie des Solocellisten der Berliner Philharmoniker, Kammermusikers und Herausgebers ist weitgehend ungeschrieben. So ist es ein erklärtes Ziel des LexM, Musikern wie Zeelander ein wenig von dem Platz zurückzugeben, der ihnen in der europäischen Musikgeschichte wohl zugekommen wäre. Ein immer noch wichtiges Anliegen, bei dem zugleich klar wird, „welchen Verlust es für Deutschland und Österreich bedeutete, dass tausende Musiker fliehen mussten, oder in den Lagern für immer verschwanden“, wie es das Vorwort des LexM formuliert.

Mit dem Mut zur Lücke und zur wissenschaftlichen Arbeit auf der offensten Bühne unserer Zeit erscheint das Lexikon als Online-Publikation, gehostet von der Universität Hamburg. Die einzelnen Artikel unterscheiden sich in ihrem Umfang erheblich; über Adorno, um bei unseren drei Beispiel-Biographien zu bleiben, ist etwa so viel zu lesen wie über Zeelander, während der Beitrag über Günter Raphael zu den weit fortgeschrittenen, ausführlichen Texten gehört.

Anfangs gefördert durch die DFG und verschiedene Stiftungen, hatte das Projekt immer wieder mit erheblichen Finanzierungsproblemen zu kämpfen. Wir haben Dr. Sophie Fetthauer als hauptamtliche wissenschaftliche Mitarbeiterin des LexM zur Geschichte, zum Charakter und zum aktuellen Stand des Lexikons befragt:

Wie kam das LexM-Projekt zustande? Von wem ging die Initiative aus?

Das LexM hat eine lange Vorgeschichte und ist ein Ergebnis der langjährigen Forschungen der Musikwissenschaftler Peter Petersen und Claudia Zenck zum Thema Musik im „Dritten Reich“ und im Exil. Ihre Forschungsarbeiten hatten unter anderem Paul Dessau, Berthold Goldschmidt und Ernst Krenek im Fokus. In den 1990er Jahren entstand die Idee, ein Lexikon zu verfolgten Musikern zu veröffentlichen. 1993 stellten sie den ersten Antrag, doch erst 2004 konnte, nachdem das Projekt der Universität Hamburg angegliedert worden war, ein Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gestellt werden. Die Bewilligung der DFG ermöglichte meine Stelle.

2005 begannen wir, die 5000 Namen abzuarbeiten. Peter Petersen hatte diese im Laufe seiner Forschungen gesammelt. 2006 ist das Lexikon mit den ersten 30 Einträgen online geschaltet worden.

 


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Gab es die Überlegung, das Lexikon auch in gedruckter Form zu veröffentlichen?

Die ursprüngliche Idee des Lexikons aus den 1990er Jahren sah natürlich eine gedruckte Version vor, aber die fortschreitende Technik führte dazu, dass wir 2004 gleich eine Online-Version beantragten. Einerseits kann zwar keine gesicherte Variante im Regal stehen. Andererseits ermöglicht es eine sukzessive Arbeitsweise. Der aktuelle Stand des Lexikons beträgt etwa 600 Artikel und 4000 Kurzeinträge, die bei Anfrage überarbeitet oder erweitert werden können. Bei einer gedruckten Version, wäre der Austausch mit Außenstehenden nicht möglich und würde eine Überarbeitung wesentlich verlängern. So können Wissenschaftler und auch private Forscher sich bei fehlenden Information oder Fehlern bei uns melden.

Wie viele Personen arbeiten für das Projekt?

Das Projekt hat zwei Herausgeber, Claudia Zenck und Peter Petersen, die für den Inhalt und die Konzeption verantwortlich sind. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeite ich hauptamtlich für das Projekt und bin verantwortlich für die täglichen Aufgaben wie das Schreiben und Redigieren von Personenartikeln, für die Öffentlichkeitsarbeit, die Antragstellung und die Betreuung der zwei studentischen Hilfskräfte.

Wie werden Sie finanziert?

Die Finanzierung des Projektes erfolgte in den ersten sechs Jahren über die DFG. Danach wurde es schwierig. Es gab zwischenzeitlich kleinere Stiftungen, wie die Mariann Steegmann Stiftung und die Alfred Toepfer-Stiftung, die uns unterstützten. Als deren Unterstützung auslief, musste dringend eine weitere Finanzierungsmöglichkeit gefunden werden. 2012 stieg die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung ein, die die Finanzierung für ein weiteres Jahr sicherte. Zusätzlich wird das Projekt jetzt unterstützt von der Hamburger Behörde für Wissenschaft und Forschung und in Sachmitteln von der Ernst von Siemens Musikstiftung. Von den geplanten 10 Jahren, die das Projekt laufen soll, sind somit 8 Jahre abgedeckt.

Wer nutzt Ihrer Erfahrung nach das Lexikon?

Die Leserschaft des Lexikons ist sehr breit gefächert. Im engeren Kreis sind es vor allem Musikwissenschaftler, die das Lexikon regelmäßig nutzen. Außerdem dient es Journalisten als Informationsquelle. Dazu kommt eine interessierte Öffentlichkeit, die sich nicht allein auf Deutschland beschränkt. Durch die Online-Verfügbarkeit ist das Lexikon weltweit lesbar.

Wie kommen Sie an die Biographien der Musiker?

Ausgangspunkt war die von Peter Petersen über Jahre zusammengestellte Liste von 5000 Namen aus Literatur und Quellen.

Der erste Schritt der Recherche besteht immer in der Suche nach den Personen in Primärquellen, dazu gehören die Quellenbestände der Reichsmusikkammer, dann die Entschädigungsakten, die Ausbürgerungsakten. Wichtig sind auch die Bestände verschiedener Institutionen, wie etwa die Akten der Wiener Staatsoper im Österreichischen Staatsarchiv und  die Nachlässe der Musiker, die sich im Leo Baeck Institute in New York befinden. Das systematische Sammeln wird auch auf Sekundärquellen, wie Lexika, Literatur aber auch Online-Recherchen ausgeweitet. So können in genealogischen Datenbanken Verweise auf Verwandte gefunden werden.

In den Akten der Reichsmusikkammer sind zum Beispiel die Berufsverbote ab 1935 zu finden, anhand derer der Verfolgungstatbestand beschrieben werden kann.

Welche Auswahlkriterien gibt es?

Es gibt für die Recherche mehrere Auswahlkriterien. Das erste ist das Vorhandensein des vollen Namens und eines vollständigen Geburtsdatums, meist auch des Todesdatums, damit die Person identifiziert werden kann.

Sodann haben wir zwei inhaltliche Kriterien definiert: Ist die Person Musiker? Dabei wird der Begriff Musiker weit gefasst. Dazu gehören Komponisten, Interpreten, Musikwissenschaftler, Pädagogen, Verleger und auch Musiktherapeuten.

Das zweite Kriterium ist die Frage, ob die Person verfolgt wurde. Auch hier wird der Begriff der Verfolgung weit gefasst. Es werden neben der rassistischen Verfolgung von Juden auch die einbezogen, die aufgrund ihrer politischen und kulturellen Tätigkeiten verfolgt wurden, darüber hinaus auch Homosexuelle, die verfolgt wurden.

Die Vergrößerung des deutschen Einflussbereichs durch den Zweiten Weltkrieg eröffnet eigentlich einen weiteren großen Bereich, der in das Lexikon einbezogen werden müsste, namentlich die besetzten Gebiete in Polen, Russland, der Ukraine und weitere, aber aus pragmatischen Gründen konzentrieren wir uns auf das deutsche und österreichische Gebiet.

Nicht als Auswahlkriterien zählen die Unterscheidung in U- und E-Musik und die Prominenz der Musiker. Ebenso gibt es keine Altersbeschränkung, d. h., auch wenn die Verfolgung „erst“ im Ruhestand oder während der Ausbildung stattfand, wird er oder sie aufgenommen.

Links:

LexM – Lexikon verfolgter Musikerinnen und Musiker der NS-Zeit

nmz 05/2006: Lebenswege im Exil nachgezeichnet

nmz 06/2011: 30 Jahre Forschungsarbeit in Gefahr

Die Fragen stellte unsere Mitarbeiterin Henriette Rosenkranz

Author:

Nils-Christian Engel ist begeisterter Amateur-Cellist

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