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Klanggestalten 2012 im Radialsystem V, Berlin: „Eine alte Idee noch einmal haben“

Ich bin in einen merkwürdigen Bienenstock geraten – einen, der zwar nicht gerade überlaufen ist, aber doch komplett ausgefüllt, von einer hochkonzentrierten und inspirierenden Wuseligkeit: So ungefähr ist mein erster Eindruck, als ich zur Klanggestalten-Ausstellung 2012 im Berliner Radialsystem V ankomme. Es ist mein erster Besuch bei der jährlichen Werkschau der Klanggestalten-Gruppe, die im Jahr 1998 von 20 Geigen- und Bogenbauern gegründet wurde. Ihr Ziel: die legendäre Geheimniskrämerei ihrer Zunft durch gegenseitige Inspiration zu ersetzen – und der interessierten Öffentlichkeit zu zeigen, dass Geigen, Bratschen und Celli auch in unserer Zeit auf höchstem Niveau gebaut werden.

Klanggestalten-Ausstellung Berlin 2012: Auslage mit GeigenZeigen heißt dabei natürlich nicht nur: schauen lassen, sondern vor allem: hören und spielen lassen – und damit bin ich zurück in meinem Bienenstock, denn die Klanggestalten bieten neue Meisterinstrumente in Tuchfühlung: keine Vitrinen, sondern eine offene Auslage auf beleuchteten Tischen, von denen die Geigen und Bratschen schnell aufgenommen werden können. Die Celli signalisieren von ihren hockerartigen Ständern herab ein ziemlich verlockendes „Spiel mich!“ – und entsprechend schnell füllt sich der Saal mit den Stimmen der Instrumente. Links von mir wird gerade eine Bratsche gestimmt, während man rechts schon bei einer tiefer gehenden Prüfung angekommen ist – Passagen von Bruch und Tschaikowsky, Bachs Cellosuiten und mehr schwirren durch den Raum, geerdet von Skalen und manch einem Kratzen auf der Suche nach Orientierung.

Dass es manche schaffen, sich in diesem Klanggewirr etwa auf die Obertöne einer a-Saite zu konzentrieren, nötigt mir großen Respekt ab – und doch beobachte ich gerade viele junge Musiker, die sich ihr Plätzchen suchen und mit gespannter Aufmerksamkeit ein Instrument nach dem anderen erkunden. Andere fliehen schnell in einen der fünf Anspiel-Räume – und auch die Aussteller sind, je später, je öfter, im Vorraum anzutreffen, oder auf der Terrasse am Spreeufer. Man hält das einfach keine drei Tage lang ohne akustische Unterbrechung aus.

Dort draußen erwische ich vier Geigenbauer, die sich zum Fachgespräch auf einer geräumigen Schaukel eingefunden haben: Bärbel Bellinghausen, die in Wien lebt und arbeitet, den Münchener Peter Erben, der auf dieser Ausstellung als Gast vertreten ist, Andreas Hudelmayer aus London und Burkhard Eickhoff aus München. Zufrieden sind sie alle: mit der Resonanz, dem Austausch mit den Musikern – und mit dem Wiedersehen, dem inspirierenden Gespräch unter Kollegen. Die Klanggestalten erscheinen als ein eingespieltes, gut funktionierendes Format, das Innovation fördert und präsentiert.

Wie wichtig aber ist das Bewährte, welche Rolle spielen die übermächtigen Traditionen dieses Handwerks heute? Immerhin arbeiten auch die Mitglieder und Gäste der Klanggestalten-Gruppe nach Mustern, die mehrere hundert Jahre alt sind – und sich, wenigstens für den interessierten Laien, bis dato kaum verändert haben. Ich frage Bärbel Bellinghausen nach ihrem Motto, das mir im Katalog aufgefallen ist: „Eine alte Idee nochmal zu haben“. Sie antwortet: „Naja, wir sind ja alle mit den großen Vorbildern konfrontiert und müssen mit denen leben – das ist ja nicht immer so eine ganz einfache Geschichte. Das ist unsere Inspirationsquelle, es ist aber auch die riesige Latte, die oben liegt, die man immer neu nehmen muss.“ Nach der Angst davor komme aber die Lust an der Variation, am „Neu-Machen“.

Wie neu aber ist „neu“, hake ich nach. Haben innovative Geigenbauer von heute ein Geheimnis, das sie garantiert mit ins Grab nehmen werden? Bärbel Bellinghausen lacht „Ja!“, und Peter Erben hakt gleich ein, das müsse er mal herausfinden. DAS Geheimnis, stellen die vier klar, gebe es eigentlich nicht – auch wenn einzelne Kollegen meinten, den Stein der Weisen im Geigenbau gefunden zu haben. Natürlich gebe es bestimmte „Kniffe“ zu komplizierten Problemen des Geigenbaus, unterstreicht Bellinghausen – aber „ins Grab nehmen ist relativ“. Über die großen Geheimnisse sei einfach schon ziemlich viel bekannt, und überhaupt, betont Peter Erben, sei die neue Offenheit im Geigenbau von großem Nutzen. Die Instrumente seien einfach viel besser geworden in den letzten dreißig Jahren: „Seitdem der Austausch stattfindet, seitdem ist es auch mit dem neuen Instrument einfach richtig bergauf gegangen – und es ist noch kein Ende abzusehen. Es gibt Forschung, es gibt Techniker, die sich mit der Akustik auseinander setzen, das fließt ja alles in unser handwerkliches Können ein.“

Welche Rolle spielen traditionelle Verfahren bei so viel Offenheit für Wissenschaft und Technik, zum Beispiel der Holzeinschlag nach dem Mondkalender, der für viele moderne Geigenbauer eher ins Reich der Mythen gehört? Peter Erben richtet sich nach diesem überlieferten Wissen, räumt aber ein: „Das kann man auch wissenschaftlich nicht, oder fast nicht belegen, dass es irgenwelche Auswirkungen auf das Holz hat. Wenn Sie zwei Stücke einem Physiker geben, der die untersucht, das eine mondphasengeschlagen, das anderen nicht, wird er wahrscheinlich beide nicht auseinanderhalten können. Und wenn Sie es mir geben, kann ich es auch nicht erkennen.“ Was spricht aber dann für dieses Verfahren, wenn sich daraus keine objektiv messbaren Unterschiede ergeben? „Die ganze Entwicklungsgeschichte für das Instrument beginnt halt bei mir im Wald – wenn ich den Baum stehen sehe. Und dann kann ich mir überlegen, zu welchem Datum will ich ihn fällen, welche alten Spielregeln gibt es dafür. Der Prozess des Bauens beginnt bei mir einfach ein Stück früher, und mein Herz hängt dann einfach auch an dem Stück Holz, das ich schon als Baum im Wald gesehn habe.“

In diesem Spannungsfeld zwischen Tradition und neuem Geigenbau stellt sich mir die Frage, ob es heute so etwas wie eine geigenbauerische Avantgarde gibt, und wie diese zu definieren wäre. Experimentelle Ansätze hat die Geigenbaugeschichte ja durchaus erlebt, manche überzeugend, viele weniger. Dem Kreis der Vier auf der Schaukel liefere ich damit natürlich eine Steilvorlage: Ich müsse mich nur umdrehen, die Avantgarde sei ja da drin zu sehen … Burkhard Eickhoff unterstreicht aber, dass es kaum eine echte Avantgarde geben könne, solange die Musik nicht nach einer deutlich veränderten Geige verlangen würde – ein Umstand, den manche Geigenbauer durchaus als Handicap empfänden. Im Visuell-Ästhetischen allerdings, widerspricht Bärbel Bellinghausen, gebe es einen neuen Individualismus, und Wagemut: Holzauswahl und Lackierung sprächen wieder eine kraftvolle handwerkliche Sprache.

Raum für Gespräche bei der Klanggestalten-Ausstellung 2012 in BerlinDrinnen im Bienenstock summt es während unseres Gesprächs mit unverminderter Intensität weiter – und längst nicht alle Musiker, die neue Instrumente anspielen, sind unmittelbar auf der Suche nach einer passenden Neuanschaffung. Jakob Kuchenbuch etwa ist, für mich überraschend, vor allem gekommen, um Erfahrungen mit neuen Celli zu sammeln und sich von den unterschiedlichen Klangbildern inspirieren zu lassen. Ich bitte den Schüler des Weimarer Musikgymnasiums Schloss Belvedere vor die Tür zum Gespräch, als er nach mehreren Stunden intensiven Probespiels eine Pause einlegt – und sein Kanal ist, wie man sagt, in dem Moment ziemlich voll: „Nein, es ist nicht zu viel, aber die Auswahl ist schon riesig. Es ist schwierig, da noch zu differenzieren und irgendwann noch den richtigen Blick zu haben – dass irgendwann so viel Eindrücke auf einen einfließen, dass man gar nicht mehr weiß, wo man steht“. Zur Zeit spielt Kuchenbuch auf einem alten Instrument, einem Leih-Cello der Franz-Liszt-Hochschule in Weimar. „Ein altes Instrument an sich ist schon immer eine schöne Sache, aber sie sind rar und heißumkämpft auf dem Markt, und vielleicht auch nicht unbedingt besser.“ Seine weitere Ausbildung kann sich der junge Cellist gut auf einem neuen Instrument vorstellen, so seine Zwischenbilanz. „Es gibt schon einige Instrumente, wo ich sehr begeistert war. Es gibt noch kein Instrument wo ich sagen würde, da würde alles für mich jetzt stimmen, aber es gibt ein, zwei Instrumente, wo ich sage, die haben mich sehr beeindruckt.“

Da ist das Thema wieder, das auch im Klanggestalten – Katalog an vorderer Stelle erscheint: die alten versus die neuen Instrumente. Müssen sich zeitgenössische Geigenbauer eigentlich so entschieden gegen die „uneingeholte Überlegenheit der alten italienischen Geigen“ verwahren, wie es der Einleitungstext des Ausstellungskataloges suggeriert? Vielleicht ja – dafür spricht in gewisser Weise die Einschätzung, die einer der jüngsten Ausstellungs-Besucher zu Protokoll gibt. Der zehnjährige Linus aus Mahlow spielt schon seit satten sechs Jahren Geige, und hat gerade ein Instrument der Ausstellung gründlich ausprobiert – noch ist er aber nicht wirklich überzeugt: „Du bist ja immer lieber dafür, dass du auf alten Instrumenten spielst“, fasst seine Mutter die innerfamiliäre Diskussion zusammen. „Er liebt alte Instrumente, hat jetzt auch eins aus dem 19. Jahrhundert“ – und überhaupt ist die neue Geige, die der junge Musiker zuletzt in den Händen hatte, noch sehr fremd. „Die Geige ist ziemlich groß, und wo ich die Finger hintun soll, ist ungewohnt.“

Vielleicht ist Linus später noch zu einer anderen Einschätzung gekommen; eine instinktive Vorliebe für „das Alte“ ist aber bei vielen Interessenten zu erkennen – von der auch der Offenburger Geigenbauer Bertrand Bellin berichtet. Seine Instrumente sind mir durch ihre detailliert gestalteten Antikisierungen aufgefallen – die er durchaus nach den persönlichen Vorlieben seiner Kunden ausführt. Insgesamt aber scheint im Bienenstock der Klanggestalten-Ausstellung 2012 doch das professionelle Interesse am Klangprofil der neuen Arbeiten zu überwiegen, gegenüber „äußerlichen“ ästhetischen Aspekten.

Probespiel ausgewählter Geigen bei der Klanggestalten-Ausstellung 2012 in BerlinAuch Stephan Picard, der gerade eine Auswahl der hier präsentierten Violinen mit spürbarer Freude am Versuch öffentlich vorgestellt hat, würde alte und neue Geigen nicht gegeneinander ausspielen wollen. Der Violin-Professor von der Berliner Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ beschreibt seine eigene „instrumentale Biographie“ als fliegenden Wechsel von alt und neu: „Meine erste wertvolle Geige, als ich eine Stelle hatte, war eine Geige von Ferdinando Gagliano aus dem 18. Jahrhundert. Dann hatte ich eine Geige von Giuseppe Rocca, dann habe ich diese Geige von Peter Greiner gespielt – die nach wie vor hervorragend ist –, aber dann ist mir wieder eine andere Geige von Giuseppe Rocca über den Weg gelaufen, mit der ich sehr glücklich bin. Ich bin sozusagen wieder auf „alt“ zurückgegangen“. Es sei eben doch „ein Gefühls-Ding“, wie mir später eine Geigenstudentin erklärt, zu dem aber durchaus auch „harte“ berufliche Anforderungen kämen: Wer sich auf vordere Orchester-Positionen bewerbe, brauche eben ein Instrument, das über solistische Qualitäten verfüge, gleichzeitig aber anpassungsfähig an den Gruppenklang sein müsse.

So bleibt die Entscheidung für ein Instrument am Ende doch vor allem eine Frage der individuellen Klangvorstellung, des eigenen künstlerischen Interesses – hier am Spreeufer im Oktober 2012, fern aller Ideologie. Dem stellen sich die Geigen- und Bogenbauer der Klanggestalten – Initiative Jahr für Jahr – in einer Veranstaltung von hoher künstlerischer Valenz, bei der sich äußerst unterschiedliche Instrumenten-Persönlichkeiten in ihrer beeindruckenden handwerklichen Qualität kennenlernen lassen. Die Auseinandersetzung mit den individuellen Klangoptionen, die all diese jungen Arbeiten anzubieten haben, verfängt, selbst wenn direkte Verkäufe während der Ausstellung eher die Ausnahme als die Regel sind. Dass der unmittelbare kommerzielle Zweck nicht im Vordergrund steht, ist jedoch gerade einer der großen Vorzüge dieses Termins, der nicht nur professionellen Musikern sehr zu empfehlen ist: als ein inspirerendes Forum, das sich „oberhalb“ des Atelier-Besuchs positioniert, dabei aber die großen Musikmessen auf wohltuend-intime Weise unterbietet.

Author:

Nils-Christian Engel ist begeisterter Amateur-Cellist

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