Gute Vorsätze fasst man ja für gewöhnlich zum neuen Jahr, ich halte das aber für eine Vermeidungsstrategie: Denn die wahre Zeit der guten Vorsätze ist nicht der erste Erste, sondern der Endspurt auf Weihnachten zu, der Tages-Countdown vor den Raunächten, in denen das Unerledigte sein nächtliches Gewimmel veranstaltet und man sich vor der wilden Jagd lieber hinter dem Weihnachtsbaum verkriecht. Gute Vorsätze – so alle Jahre wieder das harte Fazit – bewähren sich nicht, indem man sie fasst, sondern indem man sie ausführt.
Wohlan! Zu meinem fest geplanten Programm gehört seit dem Spätsommer mehreren Wochen die feine neue CD „VagabundenSuite“ des Berliner Trios Tsching, die hiermit nicht unter den Tisch fällt. Tsching ist Euch treuen Lesern bekannt, immerhin hatte uns schon vor fast 3 ½ Jahren die Cellistin des Ensembles Franziska Kraft zum Gespräch beehrt, und später interessante Reflexionen über die Paradoxien von, nota bene, Musikvermittlung in der Musikschule geschrieben.
Nun also eine „VagabundenSuite“, die neue CD, mit der Tsching im August dieses Jahres neu auf sich aufmerksam gemacht hat. Eine zweite Veröffentlichung ist mindestens so spannend wie die erste, denn gerade für Crossover-Projekte liegt die größte Gefahr ja gemeinerweise genau in dem, was sie ausmacht: Das Frische, Innovative und Unerhörte, mit dem sie auftreten und sich zuerst einen Namen verschaffen. Wenn nun am Anfang wie bei Tsching ein Klangerlebnis steht, das sich aus einer unkonventionellen Kombination von Instrumenten ergibt, ist die Versuchung groß, in diesem Pool einfach noch ein paar genussvolle Runden zu drehen. Und so war auch für Tsching der Schritt zur zweiten CD schon eine Probe aufs Exempel: Wohin haben Ben Aschenbach die Gitarre, Helmut Mittermaier seine Saxophone und Franziska Kraft ihr Cello getragen, nach der beachtlichen Premiere mit „Serenata“ im Jahr 2011?
Um mir selbst einen Eindruck zu verschaffen traf ich die drei auf dem diesjährigen tff in Rudolstadt, zu ihrem Auftritt im stets schönen Garten des Schillerhauses, der gerade bei diesem legendären Mega-Event der Weltmusik eine angenehme Oase der Ruhe bietet. Leider vermasselte mir eine defekte SD-Karte das eigentlich geplante Video-Posting, sonst könnte ich hier mit ein paar Live-Impressionen aufwarten … Was schade ist, denn die ruhige, konzentrierte, ja fast introvertierte Atmosphäre des kleinen Konzerts hat mich überrascht – die Balkan-Tango-Swing-Expeditionen von „Serenata“ hätten auch eine knalligere Bühnenshow erlaubt. Aber keine Enttäuschung, im Gegenteil: Musiker, Publikum und Location passten gut zueinander. Die große Geste ist nicht die Sache von Tsching, mehr der feinsinnige, hintergründige Witz, der überhaupt zum Konzept der Gruppe geworden zu sein scheint.
Den Zuhörern wurde also ein ausgesprochenes Rätselkonzert aus dem Programm der „VagabundenSuite“ geboten, eine Liedersuche in verwinkelten Arrangements, für die die drei Musiker mit Laune in der großen Volkslied-Truhe gewühlt haben. Zwei Melodien seien in jedem Stück ihres neuen Projektes zu finden, lautete der Schlüssel fürs geneigte Publikum – oder war da manchmal sogar eine dritte? Es mag auch täuschen … Wie auch immer: „VagabundenSuite“ heißt, dass Brüderlein im Tango-Schritt rüber zu den Leningrad Cowboys schlendert, we’d sing and dance forever and a day, denn genau das ist ja am Ende auch irgendwie Schwesterleins Problem … und richtig verführerisch sind schließlich nur schwarze Augen im Frühtau zu Berge, allen blond-blauen Klischees zum Trotz.
So war die sommerliche Geruhsamkeit in Schillers Garten schon perfekt geeignet, den Fährten nachzuspüren, die Tsching in den neuen Stücken auslegt; und jetzt im Winter, wenn es vielleicht auch mal schneit, bietet die annähernd makellos transparente Studioqualität der CD einen ebenso passenden Hörraum. Denn es gibt viel herauszulauschen in diesen ausgefeilten Liederkreuzungen, die aber, wie alle drei im Gespräch nach dem Konzert betonten, ständig in Bewegung sind: „Meistens bringt einer ein Arrangement mit, das dann weiter bearbeitet wird. Dann entwickelt es sich vor allem auch bei den Konzerten weiter – durch die Improvisationsteile entsteht immer wieder etwas Neues, das wir dann wieder ins nächste Konzert mitnehmen. So wächst das Arrangement auch nach der CD noch weiter, auch in andere Richtungen“, sagt Ben Aschenbach. „Im Proberaum werden die Basics festgelegt“, hakt Franziska Kraft ein: „Die Improvisationen sind der wichtigste Bestandteil in den Stücken. Die üben wir aber nicht im Proberaum; 90 Prozent der guten Dinge entstehen bei den Konzerten.“ Und Helmut Mittermaier ergänzt: „Die Stücke entwickeln sich immer weiter. Im Studio ist man ganz am Anfang, spielt sie zum ersten, zweiten, dritten Mal, und wenn man sie dann zehn oder dreißig Mal live gespielt hat, kriegen sie eine ganz neue, interessante Form. Das ist auch eigentlich das Spannende daran.“
Die Souveränität, mit der Tsching auch live auf die komplex auszubalancierenden Klangmöglichkeiten ihrer schrägen Besetzung zugreifen, sollte deshalb nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Grundlage dafür eine lange und konzentrierte Zusammenarbeit ist. „Es war zum Teil wirklich schwer, in der Besetzung Stücke zu arrangieren, die dann auch funktionieren, die grooven, die harmonisch gut sind“, sagt Helmut Mittermaier. „Wenn man das jetzt hört, denkt man, ah ja, ist ja alles easy, aber das ist wirklich ein langer Prozess gewesen, bis das so stand. Wir haben im Proberaum viel Schweiß vergossen, und viel verworfen, wieder Ideen angeschleppt und wieder verworfen, und das ist jetzt sozusagen die Quintessenz oder die Spitze des Eisbergs, und vieles liegt noch drunter, was man jetzt eigentlich gar nicht hören kann.“
Dafür ist nicht zuletzt die musikalische Bandbreite verantwortlich, die das Cello natürlicherweise mitbringt. Ben Aschenbach: „Helmut und ich spielen ja schon länger zusammen, und haben Franziska dann kennengelernt und fanden es einfach reizvoll, mit dem Cello zu arbeiten, gerade weil es so vielfältig ist; weil es sowohl eine Bassfunktion als auch eine Melodiefunktion übernehmen kann, sowohl eine Begleitfunktion als auch solistisch, so facettenreich ist.“ Franziska Kraft stimmt zu: „Also es hat tatsächlich ein bisschen gedauert, bis wir die ganze Bandbreite herausgefunden hatten, was überhaupt geht. Aber dadurch haben sich auch wieder neue Klangoptionen entwickelt, die die anderen beiden übernehmen können, sodass wir jetzt sozusagen die Farben potenzieren konnten. Ganz viel ist durch das Livespielen gekommen, durch das Ausprobieren. Jetzt mit der VagabundenSuite ist sicher auch bei den alten Stücken noch etwas dazugekommen.“
Mein Fazit: „VagabundenSuite“ ist ein bravourös gelungener zweiter Schritt für Tsching. Die drei Musiker beweisen, dass es ihnen nicht um eine erfolgversprechende Sound-Masche geht, sondern um kluge, kreative und anspruchsvolle Arbeit mit den speziellen Möglichkeiten ihrer Gruppe. Man darf gespannt sein, wohin die weitere Reise führt – gefragt, welches Stück ihr persönlich für die Zukunft am meisten in der Nase steckt, sagt Franziska Kraft: „Es gibt da so ein Violinkonzert von Chatschaturian, das würde ich gern mal arrangieren.“
„Mit den Jungs?“
„Ja!“
Die CD „VagabundenSuite“ von Tsching ist 2014 erschienen und als Digipack mit achtseitigem Booklet z. B. direkt beim Ensemble zu erwerben. Die Gesamtspieldauer beträgt 65’14 min. Preis aktuell: 15,00 € zzgl. Versand.
Linktipp: Website von Tsching www.tsching.net
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