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Alemannische Geigen (Alemannische Schule)

Unter der Bezeichnung „Alemannische Schule“ fasst die Geigenbauforschung Streichinstrumente des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zusammen, die aufgrund stilistischer Kriterien als Beispiele einer autochthonen Geigenbautradition im Raum Südschwarzwald-Basel-Bern bestimmt wurden. Ihr Verbreitungsgebiet deckt sich weitgehend mit dem Sprachraum der hochalemannischen Dialekte. Unmittelbare Lehrer-Schüler-Beziehungen sind archivalisch zwar kaum nachzuvollziehen, können aber aus der Analyse der überlieferten Instrumente abgeleitet werden. Joseph Mayer sowie sein Stiefvater und Lehrmeister Adam Kirner gelten demnach als Begründer – oder wenigstens früheste greifbare Vertreter – der Alemannischen Schule; in der ihnen folgenden Generation sind Hans Krouchdaler (Krauchthaler), Johann Konrad Stoppel (Stobbel) und Franz Straub bekannt.

Die Form der alemannischen Streichinstrumente wird oft als „archaisch“ charakterisiert und weist erhebliche Unterschiede zum italienischen Geigenbau auf, der die Alemannische Schule – wie viele andere regionale Traditionen – im Laufe des 18. Jahrhunderts verdrängte. Merkmale des alemannischen Stils sind eine leicht eckige Korpusform, gestreckte Mittelbügel, lang ausgezogene Ecken und auffallend hohe, senkrecht ausgerichtete F-Löcher. Beispiellos sind auch die mächtige Gestaltung der Schnecken und die außergewöhnlich reiche Verzierung vieler Instrumente mit Intarsien. Gerade letztere sind ein augenfälliger Beleg für die handwerkliche Qualität dieser Streichinstrumente: Herz- und schlaufenförmige Ornamente, oft aus dem inneren Span doppelter Randeinlagen herausgezogen, sowie floraler und geometrischer Dekor wurden mit prachtvoll eingefärbten Hölzern ausgeführt.

Auch andere bauliche Details sind für die Alemannische Schule charakteristisch: Der Bassbalken verläuft nicht auf der Bass-Seite der Decke im Bereich des linken Stegfußes, sondern ist als gratförmige Verstärkung entlang der Mittelfuge aus dem Holz der Decke herausgearbeitet. Diese Lösung ist in ihrer Zeit handwerklich ebenso überzeugend wie die Einheit von Oberklotz und Hals, die viele statische Probleme der im Barock üblichen, geleimten und genagelten Verbindung vermeidet. Für den ganz eigenständigen Ansatz dieser Meister spricht auch die freie Konstruktion des Korpus, der ohne Innenform aufgeschachtelt wurde. Dabei verzichtete man fast durchgehend auf Eckklötze und Reifchen; die Zargen sind oft in das Oberklotz-Hals-Stück eingeleimt und zusätzlich – bei einigen Baßgeigen – in Nuten an Decke und Boden eingelassen. Da die Ecken direkt auf Gehrung gesägt und verleimt wurden, ergab sich ihre auffallend lange, stark nach außen gestellte Form.

Die Forschung nimmt an, dass die offenkundige Unberührtheit des alemannischen Geigenbaus mit der relativ geschlossenen Musikkultur korrespondiert, die für das Verbreitungsgebiet dieser Instrumente anzunehmen ist. Die schwache Ausprägung einer höfischen Kultur führte dazu, dass die musikalischen Innovationen des französischen und italienischen Barock erst spät im alemannischen Raum ankamen. Die musikalische Praxis blieb vermutlich weitgehend auf die Werke deutscher Komponisten beschränkt, die zudem bevorzugt in kleinen Ensembles („Collegia Musica“) aufgeführt wurden. Für diese Zwecke sind die Streichinstrumente der Alemannischen Schule gut geeignet, und so zieht die Forschung aus ihnen umgekehrt Rückschlusse auf die Klangideale, die für die deutsche Musik des Frühbarock historisch anzunehmen sind.

Für heutige Ohren sind die Stimmen dieser Instrumente fremd und gewöhnungsbedürftig – wovon man sich mit einer interessanten CD aus der Reihe „Klingendes Museum“ der Berliner Musikinstrumenten-Sammlung überzeugen kann. Ebenda begann Ende der 1950er Jahre die Entdeckung der Alemannischen Schule, initiiert und vorangetrieben durch die im Jahr 2000 verstorbene Restauratorin Olga Adelmann. 1955 war die Schülerin Otto Möckels und Curt Jungs, die 1940 ihre Meisterprüfung als Geigenbauerin abgelegt hatte, in die Werkstatt der Musikinstrumenten-Sammlung gekommen. 1957 kamen mit der Sammlung des Malers Fritz Wildhagen auch zwei merkwürdige, mit falschen Gasparo da Salò-Zetteln versehene Instrumente auf ihren Tisch. Nach einer jahrelangen, detektivischen Suche bei Geigenbauern, Sammlern, Musikern und in mehreren europäischen Museen zeichnete sich ab, dass diese beiden Instrumente, eine Diskant- und eine Bassgeige, einer noch unbekannten, eigenständigen Tradition zuzuordnen sind. Rund 30 Instrumente konnten schließlich als Arbeiten der Alemannischen Schule bestimmt werden, die zuvor als mehr oder weniger „stillose“, bäuerliche Gelegenheitsarbeiten eingeschätzt worden waren – oder als mysteriöse „missing links“, die die Entwicklung der Violine aus ihren mittelalterlichen Vorläufern erklären sollten. Adelmann berichtet über ihre abenteuerliche Suche und akribische Forschung in einer Monographie und in einem Vortrag, der im Jahrbuch des Staatlichen Museums für Musikforschung für das Jahr 2000 erschienen ist.

Literatur und weiterführende Hinweise zur Alemannischen Schule:

Olga Adelmann, Annette Otterstedt: Die Alemannische Schule – Geigenbau des 17. Jahrhunderts im südlichen Schwarzwald und in der Schweiz. Berlin: SIMPK, 1997. 203 Seiten, zahlreiche Abbildungen. ISBN 3-922378-15-3
Direkt bestellen beim SIMPK …

Olga Adelmann, Die Entdeckung der Alemannischen Schule. In: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: Berlin, 2000, S. 277 ff. ISBN 3-476-01793-1
Online lesen auf der Website des SIMPK …

Annette Otterstedt, Die Bedeutung der Entdeckung der Alemannischen Schule für die Praxis. In: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: Berlin, 2000, S. 259 ff. ISBN 3-476-01793-1
Online lesen auf der Website des SIMPK …

CD Klingendes Museum 10 – Die Meister der Alemannischen Schule. KM 2016-2
Hörproben und direkte Bestellung beim SIMPK …

Instrumente der Alemannischen Schule auf der Website des SIMPK …

Krouchdaler-Geige auf orpheon.org …

Forschungsprojekt am Conservatorium Gent …

Author:

Nils-Christian Engel ist begeisterter Amateur-Cellist

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