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Beethovens Violinkonzert op. 61, neu herausgegeben von Clive Brown

Ludwig van BeethovenLudwig van Beethovens Violinkonzert D-Dur op. 61 ist nicht nur eines der schönsten und musikalisch anspruchsvollsten Solokonzerte des 19. Jahrhunderts, sondern gibt der Musikwissenschaft mit seiner komplizierten Überlieferungsgeschichte auch einige besonders knackige Rätsel auf. In seiner jüngst bei Breitkopf & Härtel erschienenen Ausgabe des Konzerts zeigt der englische Forscher Clive Brown, wie aufschlussreich editions- und aufführungsgeschichtlich orientierte Zugänge sein können – geeignet, historisch aufzuklären, ohne den Interpreten unserer Tage zu bevormunden, denn sie führen nicht ins stille Kämmerlein des komponierenden Genies, sondern in Studierzimmer und Konzertsääle, wo man großen Kollegen früherer Zeiten begegnet.

Aber wie es mit der Geschichte eben so ist: man bekommt die Früchte gediegener Forschung niemals umsonst. Damit sich Clive Browns editorische Leistung ganz erschließt, wollen die ausführlichen, faktengesättigten Einführungen erst einmal studiert sein, die den beiden Versionen der Ausgabe (Partitur für Violine und Orchester, Ausgabe für Violine und Klavier) jeweils vorangestellt sind. Ihren hochkonzentrierten Niederschlag findet seine Forschung schließlich in einer historisch-informierten Einrichtung der Violinstimme, die neben einer „nackten“, für die eigene Bearbeitung des Interpreten bestimmten Urtext-Fassung formuliert, welchen wissenschaftlichen Reim sich Brown auf die vielen Fragen des Konzerts und seiner Interpretationsgeschichte gemacht hat.

Wohltuend ist, dass der Professor von der University of Leeds nirgends den Anspruch erhebt, etwas wie eine letztgültige, normative Deutung dieses an Klippen und Untiefen reichen Stoffes gefunden zu haben. Brown richtet sich vielmehr „an die wachsende Zahl von Geigern, die ein erweitertes Verständnis des Konzerts anstreben, und die sich deshalb so eng wie möglich mit den Intentionen des Komponisten vertraut machen möchten.“

Die „Intentionen des Komponisten“ aufspüren zu können ist natürlich zugleich auch ein kühner Anspruch – zumal bei diesem über 200 Jahre alten Werk, das in eine Epoche mit ganz anderen musikalischen Konventionen hineingeschrieben wurde, und das, worauf Brown großen Wert legt, aus eben diesem Grunde mehr Anlass bietet, missverstanden als sachgerecht interpretiert zu werden. So legt der Herausgeber sein Augenmerk auch nicht so sehr auf die verzwickte Frage, wie denn nun eigentlich etwas wie ein Urtext des Konzerts zu erheben, ja abzugrenzen sei. Diese Arbeit erledigt Brown professionell und auf der Höhe der Forschung, um deutlich zu machen, worauf es ihm eigentlich ankommt: „ein Korrektiv zu dem weitverbreiteten Trugschluss“ zu geben, „der Urtext verkörpere mehr oder weniger zuverlässig die Absichten des Komponisten.“ Denn zu wissen, was da steht, bedeutet noch nicht, auch zu verstehen, was damit gemeint ist.

Diesem hermeneutischen Problem widmet sich Brown durch den methodisch sehr überzeugenden Rückgriff auf Bearbeitungen großer Geiger, die das Konzert in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende herausgegeben und aufgeführt haben. Pierre Baillot, Ferdinand David, Henri Vieuxtemps, Jacob Dont, Heinrich Dessauer, Joseph Hellmesberger jun. und Joseph Joachim (mit Andreas Moser) finden Berücksichtigung, da sie, anders als z. B. Wilhelmj, „in besonderer Weise mit der Wiener Aufführungstradition des Werks bekannt waren“.

Ziel dieser Annäherung ist, die vermeintliche Sicherheit der Notation aufzubrechen und ein Gespür dafür zu entwickeln, welche impliziten Vorstellungen von einer angemessenen Interpretation die zeitgenössischen Musiker noch verstehen konnten, und wie sie diesen in Fingersätzen, Bogenstrichen, ihrer Auffassung von Tempo usw. Ausdruck verliehen. Natürlich widerspricht die historische Summe, die in Browns historisch-informierte Solostimme eingegangen ist, an sehr vielen Punkten heutigen Standards und Gewohnheiten, wie sollte es auch anders sein. Und gewiss liegen dabei sofort und überall die klassischen, großen Fragen der Beethoven-Interpretation auf dem Tisch – allein: die Methode ihrer Bearbeitung ist von größter wissenschaftlicher Redlichkeit, und von einer programmatischen Offenheit für die künstlerischen Schlüsse, die der heutige Interpret aus alldem ziehen mag. Eine gewisse Lücke in diesem Angebot bilden die Kadenzen, was allerdings der klaren editorischen Intention geschuldet und so nur eingeschränkt zu beklagen ist. Stattdessen bietet diese Ausgabe aber den Mehrwert, dass sie, über den unmittelbaren interpretatorischen Zweck hinaus, die Tür zur Erkundung der Welt jener großen Violinisten öffnet, deren Idiom Gültigkeit beansprucht, ohne leicht auf CD verfügbar zu sein – ein Feld, das für den wissenschaftlich interessierten Leser ohnehin spannend ist, aber auch dem Musiker reichlich Inspiration bietet.

Wahrscheinlich ist Beethovens Violinkonzert wie nur wenige vergleichbare Stücke geeignet, die Vorzüge editionsgeschitlicher Forschung für die Wissenschaft und die musikalische Praxis zu demonstrieren. Wer sich auf diesen Pfaden weiter umsehen möchte, sollte einmal die Internetseite des von Clive Brown geleiteten Forschungsprojektes CHASE – Collection of Historical Annotated String Editions besuchen. Dort ist neben umfangreichen Fachartikeln auch eine begeisternde PDF-Bibliothek historischer Notenausgaben zu erkunden, erschlossen in einer äußerst nutzungsfreundlich eingerichteten Datenbank. Beim Stöbern in diesem Bestand kommen einem reichlich Ideen, von welchen Werken man gern eine Ausgabe hätte wie diese – eine unabdingbare Pflichtlektüre für jede tiefgründige Beschäftigung mit Beethovens op. 61.

Herzlicher Dank gebührt Susanne Hehenberger für die Prüfung dieser Ausgabe und ihre wertvollen fachlichen Hinweise!

Ludwig van Beethoven, Violinkonzert - PartiturLudwig van Beethoven
Violinkonzert D-Dur op. 61

Breitkopf Urtext

Partitur (PB 5353)
Hg. von Clive Brown
ISMN: 979-0-004-21239-4
114 Seiten 32 x 25 cm
36,00 Euro

Servicelink: Die Partitur bei jpc.de online bestellen …

Ludwig van Beethoven, Violinkonzert, Ausgabe für Geige und KlavierAusgabe für Violine und Klavier (EB 8656)
Hg. von Christian Rudolf Riedel
mit einer Einführung von Clive Brown
ISMN: 979-0-004-18426-4
116 Seiten 30,5 x 23 cm
14,50 Euro

Weiterführende Informationen und Übersicht der Orchesterstimmen auf der Website des Verlages Breitkopf & Härtel

Author:

Nils-Christian Engel ist begeisterter Amateur-Cellist

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