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Kol Nidrei von Max Bruch – Erinnerungen an eine Sternstunde

Auch als Amateurcellist hat man ja so seine „Sternstunden“. Meine Aufführung des „Kol Nidrei“ von Max Bruch mit dem Schulorchester am Ende meines zwölften Schuljahres war für mich eine solche. (Eine meiner wenigen, um ehrlich zu sein … Umso stolzer jedoch bin ich, dass ich mich damals überhaupt auf die Bühne getraut habe!)

Schon zu diesem Zeitpunkt war das Stück ziemlich schwer für mich. In den Jahren danach habe ich es praktisch überhaupt nicht mehr gespielt; als ich es vor Kurzem wieder ausgrabe, will ich es kaum anstimmen – einfach weil mir bewusst ist, in welchem Maße ich aus der Übung bin.

Das „Kol Nidrei“ – eigentlich ein Gebet

Die Komposition ist zweiteilig angelegt: Der erste Abschnitt basiert auf dem traditionellen Bußgesang „Kol Nidrei“. Dieser erklingt am Vorabend des höchsten jüdischen Feiertags, des Jom Kippur (auf Deutsch „Versöhnungstag“; er bildet den Höhepunkt der zehn Tage der Reue und Umkehr). Dem zweiten Teil liegt Isaac Nathans Fassung der Hymne „Oh Weep for Those that Wept on Babel´s Stream“ von Lord Byron zugrunde.

Bruch hatte die Melodie des Kol Nidrei durch den Kantor der Berliner Jüdischen Gemeinde, Abraham Jacob Lichtenstein, kennengelernt. Auf Anregung des Cellisten Robert Hausmann machte er dann 1880/81 in Berlin und Liverpool eine Komposition für Cello und Orchester daraus, und das, obwohl er sich anfangs geweigert hatte, nach den Erfolgen seiner Violinkompositionen überhaupt für das Cello zu schreiben. Bruch war Protestant; die Veröffentlichung des „Kol Nidrei“ ließ die irrige Annahme entstehen, er sei Jude, was ihm wiederum nicht recht war. Natürlich war es auch während des Dritten Reichs in keinem Konzertsaal zu hören.

Dabei ist es wunderschön: wehmütig, später feierlich im Ausdruck und gekonnt orchestriert. Vom Inhalt des Gebets „Kol Nidrei“ (das einen vorgreifenden Widerruf aller im kommenden Jahr geleisteten Eide oder Gelöbnisse darstellt – dem Mosaischen Gesetz nach soll man ja nicht schwören) ist es meinem Gefühl nach losgelöst. Jedenfalls ist dieser Inhalt, der theoretisch dahintersteht, nicht das, was mich emotional packt. In Bruchs Werk steht die Musik einfach für sich.

Lieblingsstellen und Stolpersteine

Sehr gerne höre ich mir die Aufnahme mit Pierre Fournier und dem Orchestre Lamoureux (unter Jean Martinon) an. Schon der Anfang lässt mich regelmäßig ehrfürchtig erschauern: Nach abwärtsgerichteten Streicherakkorden (erst zart, dann, mit dem Einsetzen der tiefen Register, immer voller werdend) erklingt eine kurze „Frage“ der Bläser, dann setzt das Cello ein. Es „singt“ die Anfangstakte der Kol-Nidrei-Melodie und wechselt sich dabei mit dem Orchester ab, das immer wieder Akkorde zwischen die Melodieteile hineinsetzt. Dann werden die vier Takte eine Oktave tiefer wiederholt. Insgesamt erscheint das Hauptthema im ersten Teil viermal; von ihm abgesehen
kann ich nichts von dem melodischen Material des Originals zweifelsfrei wiedererkennen.

Die erste knackige Stelle kommt im sechsten Takt vor Buchstabe B: Die Male, wo ich diese 16tel- bzw. 32tel-Figur sauber hingekriegt habe, lassen sich an einer Hand abzählen! Vielleicht ist 1–2–4 einfach nicht der richtige Fingersatz?! Und, auch nicht ganz einfach, damals schon: Die 64tel-Läufe bzw. der 32tel-Lauf ab G. Es ist wohl ein Problem der Fingerkraft, dass das bei mir immer so verschwimmt – dabei müsste diese Passage eigentlich sehr bestimmt und akzentuiert klingen …

Sehr gut gefallen mir die beiden Orchester-Tutti im fortissimo (ab B), auf die das Cello jeweils antwortet. Aber meine Lieblingsstelle ist die Wiederkehr der Anfangsmelodie ab D, diesmal wirkungsvoll durch leise Streichertremoli begleitet: Der letzte Ton der Sequenz wird harmonisch umgedeutet (dritter Takt nach D) und der zweite Teil des Themas wird erst vom Orchester, dann vom Cello nochmals aufgegriffen und von ihm weitergesponnen, bis die Melodie in ein kurzes, sonores Solo mündet.

Nach drei Harfenakkorden, die während des letzten Cellotons erklingen, beginnt der zweite Teil: Das Cello hat Pause, die Holzbläser, die im zweiten Teil nun endlich ausführlichst zum Zuge kommen, singen die Melodie der Hymne, Streicher und Harfe begleiten. Im neunten Takt nach E (mit Auftakt) spielt das Cello die Melodie nach – wunderschön dazu die zweite Stimme der Bratschen und die Pizzicati der tiefen Streicher.

Die fiesesten Stellen in diesem zweiten Abschnitt sind meiner Meinung nach der Oktavsprung im fünften Takt nach F, der achte Takt nach G und der Oktavsprung im zweiten Takt vor H. Und auch einen ansprechend klingenden Schlusston erreicht man nicht so einfach. Die 16tel-Bewegungen, die im fünften Takt nach F beginnen, kann man hingegen mit etwas Üben recht gut hinkriegen (ich meine mich jedenfalls zu erinnern, dass ich das damals ganz gut konnte …)

Meine persönliche Lieblingsstelle in Teil zwei: der vierte Takt nach G. Das g-fis im Orchester mit dem g-f als Antwort im Cellopart – schlicht unbeschreiblich. Natürlich ist auch der Schluss toll mit den sich nach oben windenden Cellobewegungen und den dazwischengeschalteten Flötenakkorden.

Gemeinschaftlicher Probenfrust

Übrigens: Der Klavierauszug ist auch nicht ohne! Ich gebe ihn der Amateurpianistin, mit der ich unregelmäßig zusammen spiele, und obwohl sie eigentlich sehr gut ist, hat sie merklich zu knabbern (vor allem mit den Arpeggien ab Buchstabe E). Als wir das Stück zu proben versuchen, ist dies also für uns beide eine eher frustrierende Erfahrung – zumal der Klavierauszug klanglich natürlich nicht im Mindesten mit der Orchesterfassung mithalten kann (die verschiedenen Farben – die Bläser, die Harfe, die Tremoli der Streicher – fehlen). Aber bislang ist uns sowieso noch kein passender Rahmen eingefallen, um das Werk aufzuführen. Und bis dahin werden wir natürlich dranbleiben!

Überhaupt: Irgendwann spiele ich diese Komposition noch mal zusammen mit einem Orchester! Ich muss nur irgendwie wieder auf das entsprechende Level kommen … Aber wie hat es mir mein Lehrer so schön beigebracht? „Üben hilft leider.“ Wo er recht hat, hat er recht.

Author:

Freie Journalistin, PR-Texterin und Lektorin - www.die-textkomponistin.de

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