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Expeditionen: Die Violin-Sonaten von Grigorij Krein und Samuil Feinberg

Grigorij Krein, Samuil Feinberg: Violin Sonatas. Ilona Then-Bergh und Michael Schäfer. CD-CoverGrigorij Krein – Samuil Feinberg: Violin Sonatas
Ilona Then-Bergh (Violine)
Michael Schäfer (Klavier)

Genuin Classics – GEN 11203
60:31 min.

Es ist immer wieder erschreckend, wie wenig man von russischer Musik weiß, und dieses Unwissen ist von der Art, dass es größer zu werden scheint, je mehr man davon abträgt. Solcherart horizonterweiternd war für mich im vergangenen Jahr etwa die NEOS-CD von Julia Rebekka Adler, die mit den Viola-Sonaten von Miecysław Weinberg und Fyodor Druzhinin ein Zeichen setzte: für großartige Musik, und für das Soloinstrument Bratsche, das gewiss nicht über zu viel Aufmerksamkeit klagen kann. Aber davon wäre mehr zu schreiben …

Die jüngste Marke in meiner persönlichen Hör-Biographie ist die CD-Einspielung der Violinsonaten von Grigorij Klein und Samuil Feinberg, auf die Sal Pichireddu dankenswerterweise im Codaex-Blog aufmerksam gemacht hat – und dort als CD des Monats April mit einer lesenswerten Rezension würdigt. Ilona Then-Bergh (Violine) und Michael Schaefer (Klavier) haben die Reihe UN!ERHÖRT des Leipziger Labels Genuin damit um einen außerordentlich interessanten Titel bereichert, ganz im Sinne des Konzepts, Musik zu Gehör zu bringen, die „unerhört spannend und originell, unerhört interessant und packend, unkonventionell und exzentrisch ist, die aber – aus welchen Gründen auch immer – unerhörterweise aus dem Fokus der Wahrnehmung verschwunden (oder gar nicht erst hineingelangt) ist.“ Wenn diese Reihe eine „Fundgrube für Entdeckungen“ zu sein beansprucht, dann gelingt ihr das mit dieser CD einmal mehr perfekt.

Warum aber, und das ist bei den meisten CD-Projekten eine entscheidende, nicht selten kritische Frage, gehören die gemeinsam veröffentlichten Werke zusammen auf einen Tonträger? Hier lassen sich gleich mehrere Antworten geben, die tief in wichtige Zusammenhänge der modernen russischen Musik hineinführen. Hanspeter Krellmann interpretiert in seiner informativen Einführung beide Werke als „Musik des Umbruchs“, und stellt Grigorij Krein (1879-1957) und Samuil Feinberg (1890-1962) als Repräsentanten zweier Generationen der modernen russischen Kunstmusik vor, die zwar im geringen Abstand weniger Jahre lebten und arbeiteten, in deren Werk sich aber höchst unterschiedliche historische Situationen widerspiegeln. So würdigt er Kreins Violin-Sonate op. 11 aus dem Jahr 1913, die auf der CD neben dem Poème op. 25 und zwei Stücken über Jakutische Themen steht, als eine rätselhafte, visionäre und ebenso kunstvolle wie verschwenderische Arbeit – ein kammermusikalischer Höhepunkt der vorrevolutionären russischen Musik, dessen Beziehungen zu großen Vorbildern wie Alexander Scriabin, aber auch Max Reger – Kreins Lehrer um 1905-08 – noch einer gründlicheren Erforschung bedürfen.

Während die auf der CD versammelten Werke Kreins also für die Oktoberrevolution als historische und kulturelle Zäsur stehen, benennt Krellmann als Bezugspunkt von Feinbergs Violinsonate op. 46 die drückenden Restriktionen der Stalin-Zeit in den frühen 1930er Jahren. Wie bei vielen, insbesondere jüdischen Künstlern waren Leben und Werk des international renommierten Pianisten und Komponisten durch Ausreiseverbote, Konzessionen an den sowjetischen Realismus – und zugleich eine hohe Anerkennung bestimmt. Die wohl um 1960 entstandene Sonate erscheint als ein eher intellektuelles, mit Kunstverstand gearbeitetes Stück, in dem der große russische Interpret Bachs und Beethovens eine kompositorische Summe seines Lebenswerkes ziehe.

 


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Damit sind weitere Kontexte angedeutet, in denen es sich lohnt, über diese bemerkenswerten Stücke russischer Musik nachzudenken: ihren Bezug sowohl zur russischen Tradition des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als auch ihre Verbindung nach Westen, insbesondere zu den genannten großen deutschen Komponisten. Und sie stehen für einen jeweils grundsätzlich verschiedenen Umgang mit der jüdischen Musik, der Krein, Sohn eines Klezmer und wichtiger Vertreter der Neuen Jüdischen Schule, „bekenntnishafte Zuneigung“ entgegenbrachte – eine Bedeutung, die ihr in Feinbergs Werk offenbar nicht zukommt. Auch in dieser Perspektive ist es mehr als aufschlussreich, diese beiden künstlerischen Ansätze nebeneinander zu hören.

Die farbenreiche, vielseitige und nie oberflächliche Musik dieser Veröffentlichung erkunden Then-Bergh und Schäfer mit Hingabe und spielerischer Souveränität, die einen zurückhaltenden, schauenden interpretatorischen Zugriff erlaubt – wie er einer Terra Incognita dieses Formats mehr als angemessen ist. Hier sind, es darf gesagt sein, zwei äußerst interessante Musiker am Werk, Meister ihrer Instrumente, doch ohne alle Attitüde; in jeder Sekunde mit Ernst bei einer Sache, die keine geringe ist. Es bedarf reifer musikalischer Persönlichkeiten, um Musik zu interpretieren, die sich ebenso selbstverständlich durch die vermeintliche Übersichtlichkeit zweistimmiger Passagen bewegt, wie sie Welten ausgreifender Harmonik durchmisst. Und dieser Beziehungsreichtum zwischen den Stimmen der beiden Instrumente wird dem genießenden Hören ebenso zugänglich wie der Analyse. Wir wissen nichts von der der modernen russischen Musik, und das Unwissen wird mit dem Hören um vieles gelehrter: Ilona Then-Bergh und Michael Schäfer lassen an ihrer Erkundung teilhaben und führen in ein Land, das zwar in manchem vertraut, insgesamt aber doch rätselhaft ist, voll interessanter und berührender Entdeckungen.

Author:

Nils-Christian Engel ist begeisterter Amateur-Cellist

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