Warum ist es gut, einmal Super-Groupie gewesen zu sein? Was ist so schade an der Geschichtsvergessenheit vieler Musiker? Und weshalb gehören an eine ordentliche Musikhochschule mindestens acht Kameras? Unser Gespräch mit Benjamin Ramirez, einem der Experten unserer Themenwoche zu „Haltung und Bewegung“, ist denkbar vielseitig – und kreist doch immer wieder um die Erkenntnis, wie wichtig Vorbilder für das tiefere Verstehen eines Streichinstrumentes sind. Diese – durchaus persönliche – Erfahrung prägt Forschung und Lehre von Benjamin Ramirez, der an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln Violinmethodik, Didaktik und Biographienkunde unterrichtet. Die „familiäre Vorbelastung“ des engagierten Wissenschaftlers geht dabei über seine Ehe mit Prof. Ute Hasenauer, der Leiterin des Pre College in Köln hinaus und reicht mehrere Generationen weit in seine Familiengeschichte hinein.
Erzählen Sie uns bitte zu Beginn etwas über Ihre Herkunft – wie sind Sie Musiker und Wissenschaftler geworden?
Vielleicht ist es interessant, dass in meiner Familie ganz verschiedene Sparten vorhanden sind, und jede davon sehr stark: Es gibt Musiker, es gibt Wissenschaftler, es gibt Schriftsteller, es gibt bildende Künstler und Forscher. Vielleicht darf ich sagen, dass ich das Glück habe, in meiner Arbeit vieles davon verbinden zu können. Ich bin aufgewachsen mit Musik um mich herum; meine Mutter hatte Klavier studiert, mein Vater war ein sehr guter Pianist, ist aber bildender Künstler geworden und hat uns durch die Kunst ernährt. Dadurch war ich immer von Kunst umgeben. Meine Großmutter war Ausdruckstänzerin in den 20er Jahren und ich hab sie auch noch erlebt, wie sie getanzt hat – natürlich nicht in den 20er Jahren (lacht), aber auch als alte Dame hat sie noch getanzt. Und mein Großvater war Forscher und hat mit den neuesten Medien der damaligen Zeit seine Forscherarbeit begonnen. Ähnlich wie ich, mit einer Sammlung.
Was hat er gesammelt?
Er hat Volkslieder aufgenommen, mit dem ersten tragbaren Tonbandgerät überhaupt, in den 40er Jahren. Das Gerät war so modern, dass es sich die Engländer vor Ausbruch des Krieges ausgeliehen haben, die BBC, weil sie das nicht hatten. Großvater ist mit Maultier und Tonbandgerät in Tirol von einem Tal ins andere gezogen und hat die Lieder aufgenommen, die dort seit dem Mittelalter konserviert waren. Das war eine sehr wichtige Aufgabe, nicht nur musikalisch, sondern auch für die Sprachwissenschaft, weil das ganze alte Sprachgut dort noch vorhanden war – eine sehr spannende Arbeit!
Ich bin also mit Musik aufgewachsen, oder später wie in einem Atelier: Überall war Farbe, und es gab jede Woche eine Vernissage mit Konzerten oder Dichterlesungen, das war sehr spannend. Auch viele Musiker kamen ins Haus. Meine Eltern waren damals mit dem berühmten Geiger Dènes Zsigmondy befreundet, der bei vielen Labels, u. a. bei der Deutschen Grammophon Platten aufgenommen hatte, eine Stradivari spielte usw. Er ging bei uns ein und aus und war so etwas wie ein Nenn-Onkel, ein Einfluss, von dem mir erst später klar wurde, was daran wichtig war. Was aber meine musikalische Bildung angeht, gehöre ich zu den Leuten, die nicht unbedingt von Anfang an Geige spielen wollten. Ich kann mich noch gut an meine allererste Geigenstunde erinnern, die ich mit 5 Jahren hatte: Da hat mir meine Lehrerin an einem Bleistift gezeigt, wie man den Bogen hält, und ich erinnere mich noch wie in einem Film, dass sie mir sagte, der Daumen muss so und so rund gehalten werden – und ich habe als kleines Kind schon gedacht: nein, das kann nicht sein! Natürlich habe ich nicht gewagt, das zu sagen; aber dann, ungefähr 30 Jahre später habe ich mich daran erinnert und gewusst, warum ich das damals als falsch empfunden habe. Auf jeden Fall habe ich von Anfang an nachgedacht, was mit der Haltung passiert. Als sie mir dieses oder jenes Kissen empfohlen hat, war das so unbequem, dass ich dachte, das kann nicht wahr sein.
Das vielleicht wichtigste Ereignis war aber, dass ich im Alter von 10 Jahren, genau an meinem 10. Geburtstag, in ein Konzert von Henryk Szeryng gegangen bin – und ich war sowas von überwältigt, ich war zutiefst erschüttert, bin an die Bühne gegangen und habe die ganzen Zugaben dort angehört, so dass er mich ständig beobachtet hat, weil er gemerkt hat, dass da jemand so begeistert ist. Ich habe gezählt, wie oft er mich anschaut, er war für mich wie der Herrgott an der Geige. Da habe ich gedacht, ich widme mein Leben dem Versuch, vielleicht irgendwann zu verstehen, wieso dieser Mann so geigt, wie er geigt. Das war ein richtiger, interner Auftrag für mich. Als meine Mutter mir mit 5 Jahren gesagt hat „Du spielst Geige“, da habe ich mich erst dagegen gewehrt. Aber sie hat gesagt: „Doch, ich finde es schön, wenn ihr alle Streichinstrumente spielt.“ Ich habe einen richtigen Schweißausbruch bekommen, denn ich ahnte, das wird eine Menge Arbeit, das ist wahnsinnig schwierig. Und ich habe auch gewusst, wenn ich das anfange, wird das immer so sein, und dann werde ich es auch zu Ende führen.
Aber Szeryng war auf jeden Fall eine Entscheidungs-Marke. Ich bin nach dem Konzert nach Hause gekommen und habe das Cover angeschaut, von der Platte, auf der er seine Solo-Sonaten von Bach eingespielt hatte. Darauf war er abgebildet, und ich habe einen Spiegel genommen und versucht, seine Bogenhaltung nachzumachen. Ich dachte, der Mann spielt so phänomenal – ich möchte von ihm lernen. Ihm zu begegnen, habe ich mich aber nie getraut – ich habe ihn so verehrt, das war, wie es auch keiner wagt, zum Herrgott zu gehen. Ich wusste, der ist sehr streng, und hatte extremsten Respekt. Ich habe viele Konzerte miterlebt, bin aber höchstens am Künstlerzimmer am Rand gestanden – ich war der Super-Groupie … Das war so stark, dass ich als Student mit einem Freund zu seiner Wohnung in Monaco gefahren bin, und dort sind wir über den Balkon gestiegen und haben seinen Wäscheständer fotografiert, wo seine Socken hingen. Sowas in der Art … (lacht)
Großartig!
Natürlich war diese übermäßige Begeisterung vor allen Dingen etwas sehr Gutes, aber sie hatte auch ihre Nachteile, weil mich alles andere nicht mehr interessiert hat. Jeder Lehrer, der nicht Henryk Szeryng war, war für mich nicht das gleiche. Da war ich fanatisch und verbohrt. Die nächste entscheidende Marke war, dass meine Eltern in den frühen 80er Jahren einen Videorecorder gekauft haben. Meine erste Sendung, die ich aufnahm, war natürlich Henryk Szeryng, mit dem Beethoven-Konzert. Am nächsten Morgen habe ich es angeschaut, und zufällig habe ich auf die Pausen-Taste gedrückt und dieses Standbild gesehen. Da dachte ich, das ist ja unwahrscheinlich, eine Riesenchance für die Pädagogik und für die Wissenschaft! Ich war als Geiger sehr fleißig und habe bis zu 14 Stunden am Tag geübt, mit der Stoppuhr, und habe auch – darauf bin ich sehr stolz – die Aufnahmeprüfung mit Wieniawski fis-moll gemacht, an der Musikhochschule, was ein sehr schweres Konzert ist, mit 55 Staccato-Abstrichnoten. Damals hatte ich eine italiensche Geige und einen Tourte-Bogen und einen Peccatte-Bogen – und habe trotzdem gewusst, dass zwischen Szeryng oder Heifetz oder Stern und mir immer noch ein Universum liegt. Da fragte ich mich, warum das so ist. Ich hatte alles, was man haben kann: sehr viel Temperament, ich war sehr fleißig, hatte ein super Instrument, einen super Bogen, ein künstlerisches Umfeld, ich hatte ein glühendes Herz, und dachte: woran liegt der Unterschied noch? Ich hab immer mehr geforscht, weil ich dachte, es liegt nicht an meinem Herz, es liegt auch nicht an meinem Intellekt, sondern ich habe bestimmte Bewegungen nicht verstanden. Deswegen habe ich Szeryng exzessiv studiert, saß zwei Jahre lang vor dem Video-Rekorder und habe die Bewegungen gesehen – aber gleichzeitig habe ich nichts gesehen. Ich wusste, vor mir spielt sich etwas ab, das unheimlich viele Informationen trägt, aber ich kann sie noch nicht erkennen. Nach zwei Jahren hab ich dann angefangen, eine erste Theorie aufzustellen, und habe gesagt: Ah! Der setzt den Finger besonders flach auf. Das war wie ein Dammbruch, ab da habe ich mich getraut, Dinge zu sehen und die Dinge zu beschreiben und zu benennen.
Normalerweise erkennt ein Geiger einen anderen, den er beobachtet, nur schemenhaft, bei einer Prüfung oder sonstigen Anlässen. Er hört nur Töne und sieht vielleicht das eine oder andere, intuitiv – aber im Grunde genommen sehen die meisten Menschen nicht, was passiert, wenn jemand geigt oder Klavier spielt. Ein ganz einfaches Beispiel: Wenn ich im Unterricht sage, jetzt schau mal auf die rechte Hand, dann beobachte selbst bei einem erwachsenen Studenten an den Augen, dass er auf meine linke Hand schaut. Diese einfache Disziplin, sich einmal auf die rechte Hand zu konzentrieren, kann auch ein Erwachsener kaum leisten. Der ist so abgelenkt durch die Musik und alles andere! Ich zitiere deswegen oft Goethe, der die Morphologie als Wissenschaftsdisziplin ins Leben gerufen hat, und sagte, dass wir im Urwald sind, und noch keiner angefangen hat, die Blätter zu beschreiben. Alle sehen es, aber keiner hat es erfasst. So ähnlich stelle ich mir das bei uns vor: wir sehen alles, aber keiner hat richtig beschrieben was man sieht.
Sie haben ja den Begriff Instrumentalmorphologie geprägt – können Sie in ein paar Worten umreißen, was genau damit gemeint ist? Was für eine Rolle spielt die Instrumentalmorphologie in Ihrer Arbeit, welche Möglichkeiten eröffnen sich daraus für den Geigenunterricht und für die musikalische Praxis?
Erst einmal ist es ein neuer wissenschaftlicher Ansatz, die Lehre von der Form. Damit kann man natürlich etwas Statisches meinen, man kann aber auch die Bewegung als Form begreifen und den Ton als Form erfassen. Dieser Morphologie-Begriff ist im Grunde genommen weit verbreitet, insofern man ihn in allen möglichen Bereichen einsetzt, in der Wirtschaft, im Finanzwesen, in der Literatur, in der Naturwissenschaft – als eine neue Art von Wissenschaft, weil man sieht, dass es überall noch zu wenig Beschreibungen gibt. Insofern fühlte ich mich frei, das auch Instrumental-Morphologie zu nennen. Es gibt eine Geo-Morphologie, auch in der Geschichtswissenschaft, es gibt überall Morphologien. Für die praktische Umsetzung ist relevant, dass man spätere Pädagogen unterrichten kann, wie man schaut, auf was man schaut, was wichtig, und was vielleicht weniger wichtig ist. Dass man die Dinge benennen kann. Das ist vielleicht ein bisschen weit gegriffen, ich meine aber, dass man auf dieser Grundlage auch eine Gehörbildungslehre für qualitative Aspekte entwickeln kann. Unterschiedliche Vibratoformen zu hören und zu differenzieren, Klanglichkeiten zu beschreiben, z. B. was scharf ist, was dumpf, dass man das lernt, finde ich mindestens so wichtig, wie in der Hochschule eine Terz von einer Sexte unterscheiden zu können.
Das klingt, als ob Sie an einem umfassenden Lexikon arbeiten, in dem Sie diese Formen sammeln?
Das ist ganz richtig, das hatte ich vor und werde es – so Gott will – auch noch schaffen. Meine Frau und ich haben damals in Bamberg fast zweitausend Bücher per Fernleihe geordert; wir haben am Ende insgesamt mehr Fernleih-Scheine zusammengebracht als die gesamte Uni, hat uns die Bibliothekarin gesagt. Mit einem riesigen Kopierapparat haben wir fast zwei Jahre lang acht Stunden jeden Tag kopiert, um diese 2000 Bücher zu sammeln und zu archivieren. Ich habe sie alle durchgelesen und die Stellen, die sich mit Haltung, Bewegung auseinandersetzen, herauskopiert und in Hängeordnern sortiert. Daraus sollte in der Tat ein großes Buch entstehen. Ich dachte, ich könnte damit fertig werden – inzwischen bin ich froh, wenn ich meine Dissertation abschließe und daraus einen lebendigen Forschungszweig schaffen kann, der sich immer wieder neu erweitert und vertieft. Ein Buch wäre aber trotzdem natürlich eine schöne Sache. Es gibt dabei viele Möglichkeiten, den Stoff zu gliedern, z. B. nach tonlichen Aspekten, die Phrasierung als Form zu begreifen, bis hin zum Bühnenverhalten. Ich habe einen langen Vortrag gehalten über das Bühnenverhalten, vom Auftritt bis zur Verbeugung, und diese ganzen Dinge, die unendlich wichtig sind. Was passiert zum Beispiel mit den Bewegungen, wenn sie das Instrument verlassen und wieder aufsetzen – was sind das für Figuren, die sich abzeichnen? Mit anderen Worten: „Haltung und Bewegung“ ist ein sehr weites Thema.
Und es ist ein Thema, das historisch großen Veränderungen unterworfen ist. Wenn man in die Geschichte blickt, sieht man, dass sich die Lehre vom Bau eines Streichinstrumentes in den letzten 400 Jahren wesentlich weniger verändert hat als die Lehre von Haltung und Spiel.
Das ist ein hochinteressanter Punkt, wie sich das Ideal alle paar Jahrzehnte vollkommen verändert, und wie man das vor allem im kulturhistorischen Kontext bewerten kann. Gerade im 19. Jahrhundert gibt es sehr viele Festlegungen, was die Haltung angeht, nicht nur in der Musik, sondern auch im normalen Leben. Ich habe zum Beispiel einen interessanten Abriss von Goethe, in dem er beschreibt, wie die Haltung von einem Schauspieler sein soll. Es gibt aus dieser Zeit sehr detaillierte Vorstellungen von der idealen Haltung, und dieses Ideal zeigt sich eben auch in den Geigenschulen, die dann für das ganze 19. Jh. bestimmend waren und die aus den Neuordnungen nach der Französischen Revolution entstanden sind. Denn im Jahre 1803 ist in Frankreich eben vor diesem Hintergrund die „Méthode de Violon“ von Baillot, Kreutzer und Rode entstanden, die sehr bestimmend für das gesamte 19. Jahrhundert geworden ist. Alle möglichen späteren Schulen haben diese Methode kopiert. Sie sehen Jahrzehnte später quasi dieselbe Druckvorlage, aber dann mit einem Schnauzer, weil die Mode sich verändert hat, oder mit anderen Kleidern – aber die Haltungen sind nahezu deckungsgleich. Auch das Urmeter wurde in demselben Jahr 1795 festgelegt, in dem das Pariser Conservatoire gegründet wurde, das in seiner Struktur bis heute vorbildlich ist. Die Länge des Geigenbogens hat man auch um 1795 festgelegt, und damit auch die Haltung. Es ist kulturhistorisch hochinteressant, wie sich das alles entwickelt hat, wann Befreiungen entstanden, und unter welchen Kämpfen Befreiungen von Haltungsformen entstanden sind. Es gibt da Parallelen zur bildenden Kunst, wo auch Befreiungsschläge vom Klassizismus zu beobachten sind; da kamen Leute wie Delacroix, die eine Lanze für die Freiheit gebrochen haben.
Aber ist der Blick auf diese historischen Geigenschulen mehr kulturhistorischer Art, oder wirft er auch für die heutige Violindidaktik etwas ab?
Er wirft absolut etwas ab! Bestimmte Formen, die in dieser Zeit entstanden sind, kann man auch heute noch finden. Wenn ich Schüler erlebe, die von älteren Geigenlehrern unterrichtet worden sind, dann spürt man noch Rudímente aus dem 19. Jahrhundert. Diese Reste sind durchaus zu respektieren, weil ja auch Geiger wie zum Beispiel Joseph Joachim hochgradig respektabel sind, und deswegen muss man diese Haltungsformen auch mit besonderer Achtung sehen. Man kann nicht sagen, das ist falsch, sondern das ist einfach ein Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert. Wir würden das heute anders regeln, aber man muss es immer noch respektieren, das finde ich sehr wichtig.
Weil es einfach Menschen gibt, die sich heute noch so bewegen?
Weil für jede Haltungsform auch bedeutende Geiger und Geigenschulen stehen. Deswegen ist der Begriff richtig und falsch sehr schwer zu definieren bei der Geigenhaltung.
Wer legt heutzutage fest, was die richtige Haltung ist – abgesehen von Ihrer Geigenlehrerin?
(lacht) Das ist eine sehr gute Frage! Ich glaube, dass die Leute auf der Bühne wichtige Vorbilder sind. Es gibt bestimmte Musiker, die von allen möglichen Geigern – die selbst ganz unterschiedliche Haltungen haben – als „haltungsvorbildlich“ bezeichnet werden, was immer das auch heißen mag. Wenn jemand eine Haltung hat, die über 40, 50, 60 Jahre auf der Bühne funktioniert, dann sage ich, „dieser Motor läuft gut“, das ist auf jeden Fall ein physiologisch gutes Modell, und es kann einem zum Vorbild dienen. Wenn ich dann von verschiedenen Geigern, die vielleicht künstlerisch vollkommen unterschiedlich sind, aber alle sehr lang auf der Bühne standen, bestimmte Parameter sehe, die übereinstimmen – dann sage ich, diese Parameter fische ich heraus und halte sie für empfehlenswert. Wie man im 19. Jahrhundert gegeigt hat, kann man nicht so genau rekonstruieren, aber ich bin sicher, dass dort auch bestimmte Parameter erfüllt gewesen sind, auch wenn die äußere Form ganz anders war.
Ich denke hier an ein vielleicht verwandtes Thema: Wenn man mit Tanz- oder Sportpädagogen spricht, hört man oft die Klage, dass Kinder und Jugendliche heute schwere Mängel in ihrer Körperwahrnehmung haben, über kein ausgeprägtes Bewegungsgedächtnis verfügen geschweige denn so etwas wie Bewegungsphantasie entwickelt hätten. Machen Sie in Ihrem Unterricht ähnliche Beobachtungen?
Es ist immer schwierig, über Tendenzen zu sprechen. Es gab und gibt immer Haltungsschwächen in einem bestimmten Alter, was einfach auch mit den Komplikationen der Entwicklung zu tun hat, und ich finde es schwer, zu sagen, dass wir heute eine ganz andere Situation haben als in anderen Jahrzehnten. Da wäre ich vorsichtig, ich kann das einfach nicht überblicken. Zu so einer Wertung kann man rückblickend kommen und sagen, dass der Computer, das Fernsehen Haltungsschäden verursacht haben. Natürlich kann das durchaus sein.
Kehren wir noch einmal zur besonderen Rolle des Vorbildes zurück – ein Bereich Ihrer Arbeit an der Hochschule ist ja die Biographienforschung, nicht zuletzt, um Vorbilder zu erarbeiten, an denen man sich orientieren kann.
Der Anlass für dieses Thema war bei mir, dass wir uns als Studenten so manche Nacht um die Ohren gehauen haben, in der wir mit Begeisterung CDs (bzw. damals noch Schallplatten) gehört und uns mit diesen Aufnahmen auseinandergesetzt haben. Diese Begeisterung für bestimmte Solisten durften wir aber nicht in den Unterricht hineintragen, das wurde regelmäßig abgewehrt, mit dem Hinweis, das seien alles Ausnahmen. Ich fand das schade, denn darin liegt eine unheimliche Energie, die wir positiv nutzen können. Nachdem ich sehr viele Biographien gelesen hatte, fiel mir zusätzlich auf, dass die besten und vor allem die individuellesten großen Musiker selber ihre Vorbilder hatten und ihre Idole – und auch offen gestanden haben, dass sie zum Teil jahrelang andere kopiert haben. Das heißt für mich, dass der Versuch, jemanden zu kopieren, eine sehr fruchtbare Sache ist. Entweder ich scheitere daran und sage, ich kann nicht so spielen – aber dadurch finde ich gerade zu meiner eigenen Form. Oder ich erliege einem Irrtum und denke, ich spiele so, spiele aber ganz anders. Oder ich entwickle verschiedene Möglichkeiten, meine eigene Spielart zu verändern. Es ist auf jeden Fall eine sehr fruchtbare Arbeit, und ich habe im Studium festgestellt, dass die besten Studenten immer mit ihren Vorbildern zu tun hatten. Das liegt einfach daran, dass man im Geiste mitschwingen möchte, und an diesem Punkt möchte ich unsere Studenten wachrütteln. Ich habe einmal an einer Musikhochschule große Blätter gezeigt mit Fotografien der berühmtesten Geiger, wen Sie auch wollen, von Heifetz bis Fritz Kreisler – und bis auf eine Ausnahme hat kein einziger Student einen erkannt. Das fand ich ein schwaches Bild. Bei meinen vielen Interviews habe ich auch mit der Tochter von Joseph Szigeti gesprochen, und sie sagte, als ich sie nach Ysaÿe fragte: „Ihr denkt immer alle, dass das alles Dinosaurier sind, aber das ist ja gar nicht wahr, das sind Menschen aus Fleisch und Blut. Die hab ich kennengelernt, die sind ganz normal gewesen und ihr glaubt alle, das seien Fossilien.“ Diese kurze Verbindung zum 19. Jahrhundert ist sehr inspirierend, sehr aufregend, und die lässt einem die ganze Musik viel aktueller werden. Ich habe eine Dame interviewt, die hat mir gesagt, sie habe mit Max Bruch in der Elektrischen in Berlin gesessen, zu einer Zeit, als sie schon das Bruch-Konzert geübt habe. Das sind alles sehr kurze Wege.
Kurze Wege in die Geschichte – und eine erstaunliche Geschichtsvergessenheit offenbar?
Absolut!
Ich höre da auch eine leise Kritik an den Standards des Instrumentalstudiums mitschwingen – das ist ein Punkt, auf den wir in unseren letzten Interviews immer gekommen sind: Wo ist dieses sehr technisch, solistisch ausgerichtete Instrumentalstudium verbesserungsfähig, wo könnte man auf die Anforderungen der Berufswelt besser vorbereiten. Wie sehen Sie das, wo sehen Sie Ansatzpunkte für diese Kritik?
Ich habe neulich eine interessante Vorlesung miterlebt über die Geschichte des Konservatoriums in Paris, die dargestellt hat, dass sich über einen Zeitraum von fast 100 Jahren fast gar nichts verändert hat an seiner Struktur. Wir haben es an der Hochschule sehr schwer, neue Akzente zu bringen; überhaupt ist die klassische Musik durch die Traditionsverbundenheit ein sehr träges Universum. Wir sehen aber an der Sportwissenschaft, die ja erst 1970 als Wissenschaft in die Hochschulen integriert worden ist, wie schnell Veränderungen passieren können – und zwar in einem sehr positiven Sinne, denn Sport hat auch was mit Ethik zu tun, mit Ästhetik und mit Gesundheit natürlich. Deswegen glaube ich, dass wir im Hochschulwesen schnell Veränderungen einführen können, wenn wir ein bisschen mediale Energie dort hineinbringen. Man sollte immer hinterfragen – o, das darf ich eigentlich gar nicht sagen – wie viele Stunden man bespielsweise für Gehörbildung braucht. Dass man das braucht, finde ich richtig, aber ich würde zum Beispiel eine Gehörbildung im qualitativen Sinne einführen. Ich würde ein Kamerastudio in jede Hochschule integrieren, damit die Studenten sich regelmäßig sehen können.
Aber natürlich reicht das Studio allein nicht aus, da ja zunächst einmal kein Mensch etwas sieht. Prof. Altenmüller hatte mich zum Beispiel eingeladen, sein Institut in Hannover zu besuchen, und er war ganz stolz, weil sie einen Raum mit 8 Kameras eingerichtet hatten. Sie haben Aufnahmen damit gemacht, waren aber alle sehr deprimiert, weil sie auf dem Bildschirm eine Geigerin als Strichmännchen übersetzt sahen – und davon nichts hatten. Da habe ich gesagt: Wieso? Man sieht das und das und das und das, hier und da, sie können so viel sehen! Da habe ich gemerkt, dass den Leuten das passiert war, was mir zwei Jahre lang auch passiert war: man sieht auf etwas, und man sieht nichts! Ein Kamerastudio ist daher nur dann sinnvoll, wenn man die Lehrer und die Studierenden anleitet, sich zu beobachten. Das kann auf jeden Fall einen erfrischenden Akzent bringen. Es spielen sehr viele Leute sehr sauber und auch musikalisch, sehen aber so unmöglich aus, dass ich oft von vornherein sagen kann, dass diese Karriere nicht lange hält; und viele Karrieren halten heutzutage wirklich maximal fünf bis sechs Jahre. Es gibt keinen mehr, der in der Lage ist, 50 bis 60 Jahre lang auf der Bühne zu stehen – und das hat durchaus auch mit der Haltung zu tun.
Also auch mit einem Mangel an Eigenwahrnehmung?
Ja, wenn man so will.
Wir kommen langsam zum Ende unseres Gesprächs, und ich möchte Ihnen noch eine ganz andere Frage stellen – nach Ihrem eigenen musikalischen Leben zur Zeit: Sie haben so viele Projekte und Interessen – kommen Sie eigentlich noch selbst dazu, aktiv Musik zu machen?
Sehr schöne Frage! Ich weiß nicht ob man das sagen darf, aber ich bin immer noch jeden Tag an der Geige – und forsche. Das ist für mich so wichtig. Natürlich spiele ich auch ab und zu, aber es ist sehr selten, nicht der Rede wert. Wir unterrichten ständig, da spiele ich natürlich auch, aber im Grunde genommen lässt mich die Forschung nicht los. Das ist ein Fass ohne Boden und erfüllt mich mit größtem Glück. Die Erkenntnismöglichkeiten sind so reichhaltig, ich mache ständig neue Vorträge mit neuen Themen und neuen Aspekten. Im Oktober habe ich einen anspruchsvollen neuen Auftrag, da werde ich die Gemeinsamkeiten von Geigern und Pianisten aufzeigen, das ist wirklich sehr spannend. Ich werde dort mit einem berühmten Film über Picasso anfangen, in dem zu sehen ist, wie er ein Bild malt, wie er anfängt zu zeichnen – und die Bewegungen in der Luft zeigen, dass er die Konzeption schon im Kopf hat. Er schwingt ein paar mal mit derselben Figur in der Luft, bevor er ansetzt und sie realisiert. Dieses „In-der-Luft-schon-zeigen“ sieht man auch bei Pianisten und bei Geigern. Und bei Leuten, die nicht so erfahren sind, sehen Sie, da ist keine Information „in der Luft“, da kommt es einfach irgendwie und irgenwann auf die Seite. Da kann man schon vom immateriellen Zustand her Gemeinsamkeiten sehen zwischen Geigern und Pianisten.
Mich hat ein Vortrag von Prof. Altenmüller sehr berührt, bei dem er vorher wunderbar Flöte gespielt und dann mit seinem Vortrag begonnen hat. Er ist Flötist von Hause aus und hat auch in Orchestern als Aushilfe gespielt. Das wäre sehr schön, wenn ich es verwirklichen könnnte, dass ich vor einem Vortrag spiele bzw. danach, damit die Leute sehen, anders hören und anders wahrnehmen. In einem Experiment an der Harvard University hat man einmal einen Film gezeigt, in dem ein Basketball-Spiel zu sehen war, und man hat das Publikum aufgefordert, die Ballwechsel zu zählen. Die saßen alle da und haben die ganze Zeit die Ballwechsel gezählt. Hinterher hat man dem Publikum den Film nochmal gezeigt, und da war einer der Spieler in einem Gorilla-Kostüm, der zwischendurch herumtanzte; das Publikum hatte diesen Gorilla aber zuvor nicht wahrgenommen, weil es nur auf den Ballwechsel geschaut hat. Die Leute haben natürlich schallend gelacht und konnten das gar nicht fassen. Das bedeutet, wenn man nicht auf die Dinge hinweist, sieht man sie nicht. Und man hat unheimlich viel davon, wenn man mit einem bestimmten Wissen in ein Konzert geht. Das ist, als ob der Zug an einem vorbeifährt. So kann man, um es übertrieben poetisch auszudrücken, in den Zug einsteigen und mit auf die Reise gehen. Man hat einfach mehr Informationen.
Das klingt nach einem neuen Genre des Vortragskonzertes?
So ist es, ganz genau, das hab ich auch vor, als eine Neuentwicklung des sogenannten Gesprächskonzertes, bei dem man vorher die Musik beschreibt. Ich finde es eine wunderbare Idee, dass man die Bewegung und die Phrasierung beschreibt, so dass der Zuhörer das anders miterleben wird.
Ganz zum Schluss noch unsere rituelle Abschlussfrage, nach der musikalischen Persönlichkeit an Ihrer Seite – womit ich nicht Ihre Frau meine, sondern Ihr Instrument. Was für eine Geige spielen Sie, und was können sie über ihr gemeinsames Leben berichten?
Ich hatte viele Jahre eine italienische Geige von Giovanni Battista Gabrielli von 1767, die ich dann aber verkaufen musste; danach habe ich mir eine moderne Geige von Tetsuo Matsuda gekauft. Meine Frau und ich haben eine gemeinsame italienische Geige, eine Camillo Camilli von 1742, aber ich spiele hauptsächlich meine Matsuda. Wenn ich aber Fragen tonlicher Art habe, gehe ich natürlich auch an die Camilli und versuche zu überprüfen, ob es wirklich wahr ist …
… und fragen den alten Italiener …
Genau. Mein Bogen ist immer noch der von Dominique Peccatte; ich spiele auch einen Panormo, das ist auch ein Bogen um 1800. Und das macht mir großen Spaß! Gerade wenn man mit dem Ton sehr viel zu tun hat, ist der Bogen eine ganz große Welt. Ich halte auch Vorträge über Bögen, weil viele Studenten keine Ahnung haben, welche Bögen es gibt, wie man sie erkennt, wie man auf Fälschungen hereinfallen kann, wie das Verhalten der Bogenstange überhaupt ist. Mein Vater hatte mir den Peccatte geschenkt als ich 20 Jahre alt war, und der Bogen war für mich so schwer zu spielen, weil er sehr weich war, so dass ich überhaupt nicht mehr geigen konnte. Das war ein zusätzlicher Ansporn, mich damit auseinander zu setzen, weil ich wusste, es liegt nicht am Bogen, es liegt an mir. Ich wusste, dass Szeryng Peccatte-Fanatiker war und viele Peccate-Bögen hatte; ich habe diesen Mann noch mehr verstehen können, weil ich mich viele Jahre mit diesem Bogen auseinandergesetzt habe. Französische Bögen sind unheimlich wichtig, eine große Phrasierungs-Inspiration und eine Herausforderung, die Bewegungen neu zu überdenken. Insofern war es auch eine wichtige Messlatte für meine Forschung selbst. Dadurch, dass ich immer mit vielen Geigenbauern befreundet war, habe ich zwischendurch auch Guarneris und Stradivaris spielen dürfen, auch über einen längeren Zeitraum. Darüber bin ich sehr glücklich.
Auch hier also ein ausgeprägter Sinn für die Geschichte?
Absolut! Deshalb berücksichtige ich auch die Instrumentenkunde im Rahmen meiner Fachdidaktik.